Sonntag, 31. Januar 2021

Pandemien - Produkt dekadenter Gesellschaften - LZ

 

Entnommen: https://linkezeitung.de/2021/01/31/alle-pandemien-der-vergangenheit-waren-das-produkt-von-dekadenten-gesellschaften-die-von-covid-19-ist-keine-ausnahme/


Alle Pandemien der Vergangenheit waren das Produkt von dekadenten Gesellschaften, die von Covid-19 ist keine Ausnahme


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 31. JANUAR 2021 ⋅ EIN KOMMENTAR


von https://de.internationalism.org/

2017 zeigte die Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney in ihrem Buch 1918 – Die Welt im Fieber (Originaltitel Pale Rider), wie der internationale Kontext und die Funktionsweise der Gesellschaft im Jahr 1918 entscheidend zum Ausgang der sogenannten „Spanischen“ Grippe-Pandemie beitrugen: „Im Grunde hat uns die Spanische Grippe gelehrt, dass eine weitere Grippe-Pandemie unvermeidlich ist, dass aber ihr Gesamtzoll – ob 10 oder 100 Millionen Opfer – allein von der Welt abhängt, in der sie auftritt“. Da die Welt seit einigen Monaten mit Covid-19 konfrontiert ist, bringt uns diese Lektion dazu, uns zu fragen, was diese Pandemie uns über die Welt, in der wir leben, lehrt.

Die Verbindung zwischen der Entwicklung einer Infektion einerseits und der Organisation und dem Zustand der Gesellschaft andererseits ist nicht nur bei der Spanischen Grippe von 1918-1920 gegeben. In der Tat entdeckte der Marxismus, dass im Allgemeinen die Produktionsweise einer Epoche die gesellschaftliche Organisation bedingt und damit auch alles, was die Individuen betrifft, die diese Gesellschaft ausmachen.

Von der Pest im Römischen Reich bis zu Covid-19


In der dekadenten Zeit des Weströmischen Reiches ermöglichten es die Existenzbedingungen und die Expansionspolitik des Reiches, dass sich der Pestbazillus spektakulär ausbreiten und ein wahres Massensterben unter der Bevölkerung verursachen konnte: „Die öffentlichen Bäder waren Brutstätten; die Abwasserkanäle stagnierten unter den Städten; die Kornkammern waren ein Segen für die Ratten; die Handelswege, die das ganze Reich verbanden, ermöglichten die Ausbreitung von Epidemien vom Kaspischen Meer bis zum Hadrianswall mit einer bis dahin unbekannten Effizienz“.[1]

Der Schwarze Tod, der im 14. Jahrhundert in Europa wütete, fand die Bedingungen für seine Ausbreitung sowohl in der Entwicklung des Handels mit Asien, Russland und dem Nahen Osten als auch in der Entwicklung des Krieges, insbesondere in Verbindung mit der Islamisierung der asiatischen Regionen.

Diese beiden Pandemien trugen wesentlich zum Niedergang der Sklaverei und der mittelalterlichen Gesellschaften bei, indem sie wichtige Teile der Gesellschaft zerstörten und sie desorganisierten. Es waren nicht Krankheiten, die den Zusammenbruch dieser Produktionssysteme herbeiführten, sondern vielmehr der Verfall dieser Systeme, der die Verbreitung von Infektionserregern begünstigte. Sowohl die Justinianische Pest als auch die Schwarze Pest haben zu einer Zerstörung beigetragen, die bereits in vollem Gange war, und diese zweifellos stark beschleunigt.

Seit dem Aufkommen des Kapitalismus sind Krankheiten ein ständiges Hindernis für das reibungslose Funktionieren der Produktion, indem sie die für die Wertschöpfung unverzichtbaren Arbeitskräfte außer Gefecht setzen. Sie sind immer auch ein Hindernis für imperialistische Aktivitäten gewesen, indem sie die auf den Schlachtfeldern mobilisierten Männer geschwächt haben.

Als der Virus der Spanischen Grippe begann, die Menschheit zu infizieren, brauchte die kapitalistische Welt mehr denn je menschliche Kraft auf höchstem Effizienzniveau. Diese Notwendigkeit war jedoch an Bedingungen geknüpft, die selbst der Nährboden für eine Pandemie waren, die zwischen 50 und 100 Millionen Menschen oder zwischen 2,5 und 5 % der Weltbevölkerung dahinraffte. Die Welt der Spanischen Grippe war eine Welt im Krieg. Der Erste Weltkrieg, der vier Jahre zuvor begonnen hatte und kurz vor seinem Ende stand, hatte bereits die neue Welt geprägt, eine Welt der kapitalistischen Dekadenz, der festgefahrenen Wirtschaftskrisen und der immer stärker werdenden imperialistischen Spannungen.

Aber der Krieg war noch nicht vorbei. Die Truppen waren immer noch an der Front und im Hinterland zusammengepfercht, was eine ansteckungsfördernde Umgebung schuf. Insbesondere der Transport der Soldaten von Amerika nach Europa erfolgte per Schiff unter erbärmlichen Bedingungen: Das Virus war weit verbreitet und die Männer landeten natürlich mit dem Virus in sich, ansteckend für die lokale Bevölkerung. Nach Kriegsende waren die Demobilisierung und Rückkehr der Soldaten in ihre Heimat ein starker Faktor der Ausbreitung der Epidemie, zumal die Soldaten durch vier Jahre Krieg geschwächt, unterernährt und ohne die geringste Versorgung waren.

Wenn wir über die Spanische Grippe sprechen, denken wir zwangsläufig an Krieg, aber der Krieg ist bei weitem nicht der einzige Faktor, der die Ausbreitung der Krankheit erklärt. Die Welt von 1918 war eine Welt, in der der Kapitalismus seine Produktionsweise bereits überall dort durchgesetzt hatte, wo ihn seine Interessen dazu zwangen, und schuf entsetzliche Ausbeutungsbedingungen. Es war eine Welt, in der die Arbeiter und Arbeiterinnen massenhaft untergebracht waren, zusammengepfercht in der Nähe von Fabriken, in Vierteln, in denen es Umwelt- und Luftverschmutzung, Unterernährung und einen allgemeinen Mangel an Gesundheitsdiensten gab. Es war eine Welt, in der der kranke Arbeiter ohne Versorgung nach Hause in sein Dorf geschickt wurde, wo er am Ende die meisten Leute ansteckte. Es war eine Welt von Bergleuten, die den ganzen Tag in unterirdischen Schächten eingesperrt waren, Gestein abbauten, um Kohle oder Gold zu gewinnen, mithilfe von Chemikalien, die ihren Körper ruinierten und ihr Immunsystem schwächten, und die nachts in engen Baracken untergebracht waren. Es war auch die Welt der Kriegsanstrengungen, in der das Fieber den Arbeiter nicht daran hindern sollte, in die Fabrik zu gehen, selbst wenn es bedeutete, alle Arbeiter vor Ort anzustecken.

Ganz allgemein war die Welt der Spanischen Grippe auch eine Welt, in der das Wissen über den Ursprung der Krankheiten und die Vektoren der Ansteckung im Allgemeinen unbekannt waren. Die Keimtheorie, die die Rolle von körperexternen Infektionserregern bei der Krankheit in den Vordergrund schob, steckte noch in den Kinderschuhen. Obwohl man begann, Mikroben zu beobachten, wurde die Existenz von Viren nur von wenigen Wissenschaftlern vermutet: Zwanzigmal kleiner als ein Bakterium, war ein Virus zu dieser Zeit mit optischen Mikroskopen nicht beobachtbar. Die Medizin war noch wenig entwickelt und für die große Mehrheit der Bevölkerung unzugänglich. Traditionelle Heilmittel und Glaubensvorstellungen aller Art dominierten den Kampf gegen diese unbekannte, erschreckende und oft verheerende Krankheit.

Das Ausmaß der menschlichen Katastrophe, die durch die Spanische Grippe-Pandemie verursacht wurde, hätte sie zur letzten großen Gesundheitskatastrophe für die Menschheit machen sollen. Die Lehren, die daraus hätten gezogen werden können, die Anstrengungen, die auf die Erforschung von Infektionen hätten gerichtet werden können, die beispiellose Entwicklung der Technologie seit dem Aufkommen des Kapitalismus hätten dazu führen können, dass die Menschheit den Kampf gegen die Krankheit gewinnt.

Gesundheitspolitik in den Diensten der kapitalistischen Ausbeutung


Die Bourgeoisie ist sich der Gefahr bewusst geworden, welche die Gesundheitsfragen für ihr System darstellen. Dieses Bewusstsein ist nicht in irgendeiner menschlichen oder fortschrittlichen Dimension zu sehen, sondern nur als Wille, die Arbeitskraft so wenig wie möglich zu schwächen, sie so produktiv und profitabel wie möglich zu halten. Dieser Wille war bereits in der Zeit des Aufstiegs des Kapitalismus nach der Cholera-Pandemie in Europa in den Jahren 1803 und 1840 aufgekeimt. Die Entwicklung des Kapitalismus ging einher mit einer Intensivierung des internationalen Handels und gleichzeitig mit der Erkenntnis, dass Grenzen keine Krankheitserreger aufhalten.[2] So begann die Bourgeoisie bereits 1850, mit den ersten internationalen Konventionen und vor allem mit der Gründung des Internationalen Amtes für öffentliche Hygiene (OIHP) im Jahr 1907 eine multilaterale Gesundheitspolitik zu betreiben. Zu dieser Zeit war das Vorhaben der Bourgeoisie offensichtlich, da diese Maßnahmen im Wesentlichen auf den Schutz der Industrieländer und den Schutz ihres Handels ausgerichtet waren, der für das Wirtschaftswachstum unerlässlich war. Das OIHP umfasste nur dreizehn Mitgliedsländer. Nach dem Krieg schuf der Völkerbund ein Hygienekomitee, dessen Berufung bereits internationaler war (seine Tätigkeit betraf etwa 70 % des Planeten), dessen erklärtes Programm aber immer noch darauf abzielte, durch die Förderung der Hygienepolitik sicherzustellen, dass alle Rädchen der kapitalistischen Maschine optimal funktionierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam mit der Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und vor allem mit einem Programm zur Verbesserung der Gesundheit, dass sich nicht nur an die Mitgliedsstaaten, sondern an die gesamte Weltbevölkerung richtete, eine systematischere Herangehensweise an das Thema Gesundheit auf. Ausgestattet mit beträchtlichen Ressourcen, organisiert und finanziert die WHO Operationen zu vielen Krankheiten mit einem starken Schwerpunkt auf Prävention und Forschung.

Auch dahinter sollte man natürlich nicht eine plötzliche humanitäre Berufung der herrschenden Klasse sehen. Aber in einer Welt, die sich mitten im Kalten Krieg befand, wurde die Gesundheitspolitik als ein Mittel gesehen, um sicherzustellen, dass man, sobald der Krieg zu Ende war, auf die größtmögliche und produktivste Arbeitskraft zurückgreifen konnte, insbesondere während der Zeit des Wiederaufbaus – und auch später, um die Präsenz und die Herrschaft über die Entwicklungsländer und ihre Bevölkerungen aufrechtzuerhalten; die Gesundheitsvorsorge wurde als eine weniger kostspielige Lösung angesehen als die Behandlung der Kranken in Krankenhäusern.

Gleichzeitig haben sich Forschung und Medizin weiterentwickelt, was zu einer besseren Kenntnis der Infektionserreger, ihrer Funktionsweise und ihrer Bekämpfung geführt hat, insbesondere mit Antibiotika, die es ermöglichen, eine wachsende Zahl von Krankheiten bakteriellen Ursprungs zu heilen, und mit der Entwicklung von Impfstoffen. So sehr, dass die Bourgeoisie bereits in den 1950er Jahren zu glauben begann, dass die Schlacht gewonnen sei und viele Infektionskrankheiten nun der Vergangenheit angehörten: Die Entwicklung von Impfungen, insbesondere für Kinder, und der Zugang zu besserer Hygiene führten dazu, dass Kinderkrankheiten wie Masern oder Mumps selten wurden, dass die Pocken sogar ausgerottet wurden, ebenso wie die Kinderlähmung fast auf der ganzen Welt eliminiert wurde.[3] Das Kapital sollte nun auf eine unverwundbare, immer verfügbare und ausbeutbare Arbeitskraft zählen können.

AIDS, SARS, Ebola… Anzeichen für den Rückzug der kapitalistischen Herrschaft über die Natur

Die anarchische Entwicklung des Kapitalismus in seiner Dekadenzphase, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begann, hat einen starken demographischen Wandel, zunehmende Umweltzerstörung (insbesondere Abholzung), verstärkte Vertreibung von Menschen, unkontrollierte Verstädterung, politische Instabilität und Klimawandel hervorgebracht, alles Faktoren, die das Auftreten und die Verbreitung von Infektionskrankheiten begünstigen.[4] So tauchte Ende der 1970er Jahre ein neues Virus in der Menschheit auf und verursachte die bis heute andauernde AIDS-Pandemie. Die Hoffnungen der Bourgeoisie schwanden so schnell, wie sie entstanden waren. Denn zur gleichen Zeit trat das kapitalistische System in die letzte Phase seiner Existenz ein, nämlich in die seines Zerfalls. Die Entwicklung der Ursprünge und Folgen des Zerfalls des Kapitalismus ist nicht der Gegenstand dieses Artikels. Wir können jedoch feststellen, dass die eklatantesten Erscheinungen dieser Zersetzung sehr schnell die Gesundheitsfragen betrafen: das Jeder-für-sich, die kurzfristige Sichtweise und der fortschreitende Verlust der Kontrolle der Bourgeoisie über ihr System, all dies in einem Kontext einer immer tieferen und immer schwerer zu bekämpfenden Wirtschaftskrise.

Heute sticht die COVID-19-Pandemie als beispielhafter Ausdruck des kapitalistischen Zerfalls hervor. Sie ist das Ergebnis einer wachsenden Unfähigkeit der Bourgeoisie, eine Frage in die Hand zu nehmen, die sie selbst bei der Gründung der WHO im Jahr 1947 als Grundsatz festgelegt hatte: alle Bevölkerungen auf das höchstmögliche Gesundheitsniveau zu bringen. Ein Jahrhundert nach der Spanischen Grippe haben sich die wissenschaftlichen Kenntnisse über Krankheiten, deren Entstehung, Infektionserreger und Viren auf ein absolut unvergleichliches Niveau entwickelt. Die Gentechnik ermöglicht es heute, Viren zu identifizieren, ihre Mutationen zu verfolgen und wirksamere Impfstoffe herzustellen. Die Medizin hat immense Fortschritte gemacht und sich zunehmend gegen Traditionen und Religionen durchgesetzt. Sie hat auch eine sehr wichtige präventive Dimension angenommen.

Allerdings dominieren angesichts von COVID-19 die Ohnmacht der Staaten und die Panik vor dem Unbekannten. Während es der Menschheit hundert Jahre lang allmählich gelungen ist, die Natur zu beherrschen, befinden wir uns nun in einer Situation, in der dies immer weniger der Fall ist.

Covid-19 war in der Tat alles andere als ein Strohfeuer: Natürlich gab es HIV, das als Erinnerung daran diente, dass neue Pandemien noch kommen würden. Seitdem hat es aber auch SARS, MERS, Schweinegrippe, Zyka, Ebola, Chikungunya, Prionen, etc. gegeben. Fast verschwundene Krankheiten wie Tuberkulose, Masern, Röteln, Skorbut, Syphilis, Krätze und sogar Kinderlähmung sind wiederaufgetaucht.

All diese Warnungen hätten zu mehr Forschung und vorbeugenden Maßnahmen führen müssen; dies ist nicht geschehen. Nicht wegen Nachlässigkeit oder schlechter Risikoeinschätzung, sondern weil der Kapitalismus mit dem Zerfall notwendigerweise immer mehr in einer kurzfristigen Sichtweise gefangen ist, die auch dazu führt, dass er allmählich die Kontrolle über die Regulierungsinstrumente verliert, die es bis dahin ermöglicht haben, den Schaden zu begrenzen, der durch den ungezügelten Wettbewerb aller Akteure in der kapitalistischen Welt untereinander entstanden ist.

In den 1980er Jahren gab es erste Kritiken von Seiten der WHO-Mitgliedsstaaten, die der Meinung waren, dass die Präventionspolitik zu kostspielig geworden sei, vor allem wenn sie nicht direkt dem eigenen nationalen Kapital zugutekam. Die Impfungen begannen abzunehmen. Der Zugang zu Medikamenten wurde durch Kürzungen im öffentlichen Gesundheitssystem erschwert. Auf dem Rückzug ist sie aber auch alternativen „Medikamenten“ gewichen, die sich aus dem irrationalen Klima nähren, das durch den Verfall gefördert wird. So sind hundert Jahre später die empfohlenen „Heilmittel“ gegen das Virus (SARS-CoV-2) die gleichen wie die, die für die Spanische Grippe empfohlen wurden (Ruhe, Diät, Flüssigkeitszufuhr), zu einer Zeit, als noch nicht bekannt war, dass die Ursache der Krankheit ein Virus war.

Die Wissenschaft als Ganzes verliert ihre Glaubwürdigkeit und damit auch ihre Kredite und Subventionen. Die Erforschung von Viren, Infektionen und der Mittel ihrer Bekämpfung wurde fast überall aus Mangel an Ressourcen eingestellt. Nicht, dass sie so teuer wäre, aber ohne sofortige Rentabilität wird sie zwangsläufig als zu teuer angesehen. Die WHO gibt ihre Tuberkulose-Aktivitäten auf und wird von den Vereinigten Staaten aufgefordert, sich auf die Krankheiten zu konzentrieren, die sie als vorrangig ansieht, oder sie riskiert, ihren finanziellen Beitrag zu verlieren (den größten, 25% der Einnahmen).

Die Bedürfnisse der Wissenschaft, die immer noch versucht, langfristig zu arbeiten, sind nicht mit den Zwängen eines Systems in der Krise vereinbar, das den dringenden Anspruch auf eine direkte Rendite für jede Investition stellt. Zum Beispiel gibt es zu einer Zeit, in der das Zika-Virus weltweit als Krankheitserreger anerkannt ist, der Geburtsfehler verursachen kann, fast keine Forschung und keinen Impfstoff in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. Zweieinhalb Jahre später werden die klinischen Studien aufgeschoben. Das Fehlen eines profitablen Marktes zwischen den Epidemien ermutigt weder Regierungen noch Pharmaunternehmen, in diese Art von Forschung zu investieren.[5]

Der erhebliche Rückgang bei der Vorsorgepolitik: ein Spiegelbild einer Gesellschaft ohne Zukunft

Heute ist die WHO praktisch zum Schweigen gebracht, und die Erforschung von Krankheiten liegt in den Händen der Weltbank, die ihr einen Kosten-Nutzen-Ansatz aufzwingt (mit der Einführung ihres DALY-Indikators, der auf dem Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Anzahl verlorener Lebensjahre basiert).


Wenn also ein Coronavirus-Spezialist, Bruno Canard, von „einem Langzeitprojekt“ spricht, „das schon 2003 und mit dem Auftreten des ersten SARS hätte begonnen werden müssen“, und ein Virologen-Kollege, Johan Neyts, mit Bedauern feststellt, dass „wir für 150 Millionen Euro in zehn Jahren ein Breitspektrum-Antivirus gegen Coronaviren gehabt hätten, das wir den Chinesen schon im Januar hätten geben können. Wir wären nicht da, wo wir heute sind“[6], so stellen sie sich gegen den Strom der aktuellen Dynamik des Kapitalismus.

So schrieb Marx bereits 1859 in seinem Beitrag Zur Kritik der Politischen Ökonomie: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um.“ Während die Menschheit über die wissenschaftlichen und technologischen Mittel zur Bekämpfung von Krankheiten wie nie zuvor verfügt, stellt die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Organisation ein Hindernis für die Verwirklichung dieser Mittel dar.

So sieht sich die Menschheit im Jahr 2020, die in der Lage ist, lebende Organismen in all ihren Formen zu kennen und zu beschreiben, wie sie funktionieren, gezwungen, die Mittel einer Vergangenheit aufzugreifen, in der noch Obskurantismus herrschte. Die Bourgeoisie schließt ihre Grenzen, um sich vor dem Virus zu schützen, so wie im 18. Jahrhundert eine Mauer gebaut wurde, um die Provence zu isolieren, die von der Pest befallen war. Kranke oder krankheitsverdächtige Menschen werden unter Quarantäne gestellt, so wie während des Schwarzen Todes die Häfen für fremde Schiffe gesperrt wurden. Die Bevölkerung wird eingeschlossen, öffentliche Plätze werden geschlossen, Freizeitaktivitäten und Versammlungen verboten und Ausgangssperren verordnet – gleich wie es namentlich in den großen Städten der Vereinigten Staaten während der Spanischen Grippe der Fall war.

Seitdem ist also nichts mehr erfunden worden, und die Rückkehr dieser gewalttätigen, archaischen und überholten Methoden signalisiert die Ohnmacht der herrschenden Klasse angesichts der Pandemie.

Die Konkurrenz, dieses Fundament des Kapitalismus, verschwindet nicht angesichts des Ernstes der Lage: Jedes Kapital muss die anderen besiegen oder sterben. So versuchten die Staaten in einer Zeit, in der sich die Toten stapelten und die Krankenhäuser keinen einzigen Patienten mehr aufnehmen konnten, immer noch, die Ausgangssperren möglichst nach den Konkurrenten anzuordnen. Wenige Wochen später ging es darum, durch eine möglichst frühe Aufhebung des Lockdowns die Wirtschaftsmaschine so schnell wie möglich zu starten, um die Märkte des Konkurrenten zu erobern. All dies geschah mit Geringschätzung gegenüber der menschlichen Gesundheit und trotz der Warnungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft über die fortbestehende Virulenz des SARS-CoV-2. Die Bourgeoisien sind unfähig, über das auf allen Ebenen der Gesellschaft herrschende Jeder-für-sich hinauszugehen, und scheitern, wie z.B. im Kampf gegen die globale Erwärmung, bei der Entwicklung gemeinsamer Strategien zur Bekämpfung von Krankheiten.

Justinians Pest beschleunigte den Untergang des Römischen Reiches und seines Sklavensystems; der Schwarze Tod löste den Untergang des Feudalsystems aus. Jene Pandemien waren das Produkt dieser dekadenten Systeme, in denen „die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen“ geraten, und gleichzeitig waren sie ein Beschleuniger ihres Untergangs. Die COVID-19-Pandemie ist ebenfalls das Produkt einer dekadenten (und sogar zerfallenden) Welt; auch sie wird ein Beschleuniger der Widersprüche eines veralteten und moribunden Systems sein.

Sollten wir uns darüber freuen, dass der Untergang des Kapitalismus durch die Pandemie beschleunigt wird? Wird der Kommunismus so entstehen können, wie der Kapitalismus auf den Trümmern des Feudalismus geboren werden konnte? Der Vergleich mit den Pandemien der Vergangenheit endet hier. In der Sklavenwelt und der feudalen Welt waren die Grundlagen einer Organisation, die dem von den Produktivkräften erreichten Entwicklungsstand entsprach, bereits in ihnen vorhanden. Die bestehenden Produktionsweisen stießen an ihre Grenzen und ließen Raum für die Durchsetzung einer neuen herrschenden Klasse, die bereits über angemessenere Produktionsverhältnisse verfügte. Am Ende des Mittelalters hatte der Kapitalismus bereits eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Produktion eingenommen.

Der Kapitalismus ist die letzte Klassengesellschaft der Geschichte. Nachdem er fast die gesamte menschliche Produktion unter seine Kontrolle gebracht hat, lässt er vor seinem Untergang keinen Raum für eine andere Organisation, und keine andere Klassengesellschaft könnte ihn ersetzen. Die revolutionäre Klasse, das Proletariat, muss zuerst das gegenwärtige System zerstören, bevor sie das Fundament für ein neues Zeitalter legt. Wenn eine Reihe von Pandemien oder anderer Katastrophen den Sturz des Kapitalismus herbeiführt, ohne dass das Proletariat reagieren und seine eigene Kraft durchsetzen kann, so wird die ganze Menschheit mitgerissen.

Was in dieser Periode auf dem Spiel steht, ist die Fähigkeit der Arbeiterklasse, der kapitalistischen Verantwortungslosigkeit zu widerstehen, allmählich die Gründe dafür zu verstehen und die historische Verantwortung zu übernehmen. So endet das oben erwähnte Zitat von Marx:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche der sozialen Revolution ein.“

GD (Oktober 2020)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen