Donnerstag, 3. Oktober 2019

ÜBERLEBENSFRAGE - Linke Zeitung



Vor der Auslöschung


VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 2. OKTOBER 2019

von Alexander Unzicker – https://www.rubikon.news

Militär und Wissenschaft experimentieren mit Waffen von unvorstellbarer Zerstörungskraft. Exklusivabdruck aus „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur“.



Der Ökozid ist eine reale Gefahr; wenn geschieht, was sich verantwortungslose Militärstrategen ausgedacht haben, wird die Menschheit jedoch vielleicht gar nicht lange genug überleben, um die Auswirkungen der Umweltkatastrophe in vollem Umfang zu spüren. Waffen mit der Sprengkraft von insgesamt 500.000 Hiroshima-Bomben sind längst auf der Welt. So schlimm Militärs sind — richtig gefährlich wird es erst, wenn sich die Wissenschaft in den Dienst ihrer lebensfeindlichen Wahnideen stellt. Wer von der Zerstörungskraft moderner Nuklearwaffen weiß, muss sich von den Kriegs-Szenarios mancher Politiker in äußerstem Maße befremdet fühlen. Die Wissenschaft braucht eine Allianz mit dem Frieden, nicht mit Krieg. Die Welt braucht neue Politiker — und endlich lebensfördernde Technologien.

Am 10. August 1939 wurde in Princeton im US-Bundesstaat New Jersey ein kleiner Junge von einem verirrten Autofahrer gefragt, ob er denn den Weg zum Haus von Albert Einstein wisse. Es war einer jener Momente, in denen die Weltgeschichte von zufälligen Ereignissen beeinflusst wurde, diesmal in tragischer Weise. Im Auto saß Leó Szilárd, ein ungarischer Kernphysiker, der einen Brief an Präsident Roosevelt bei sich hatte. Darin wurde vor den Gefahren einer völlig neuartigen Waffe gewarnt und empfohlen, diese selbst schnellstmöglich zu entwickeln. Szilárd schaffte es, Einstein davon zu überzeugen, den Brief zu unterzeichnen. Ein unbekannter Ausländer hätte den US-Präsidenten kaum zu solch einem Vorhaben überredet, als dieser jedoch Einsteins Unterschrift sah, gab er umgehend den Befehl zum Beginn des sogenannten Manhattan Project, der Entwicklung der Atombombe durch die USA.

Einstein hatte nach der Entdeckung der Kernspaltung die alarmierende Möglichkeit einer Kettenreaktion, von der ihn Szilárd unterrichtete, sofort erkannt. Tragisch bleibt, dass der überzeugte Pazifist Einstein, der sich zeitlebens für Völkerverständigung und Frieden eingesetzt hatte, den Anstoß zum Bau der schrecklichsten Waffe gab, die die Menschheit je entwickelt hat. Die drohende Alternative, dass Hitler zuerst in Besitz der Kernwaffe gelangt wäre, möchte man sich jedoch nicht ausmalen.

Wie der Historiker Robert Jungk in seinem Buch „Heller als tausend Sonnen“ schildert, ging während des geheimen Großprojektes in der Wüstenstadt Los Alamos die Macht über die Bombe allmählich in die Hände der Militärs über. Gegen den Willen der Physiker (1) und entgegen einer zwingenden militärischen Notwendigkeit kam die Bombe zum Einsatz. Die schrecklichen Folgen in Hiroshima und Nagasaki sind bekannt.

Spaltung und Fusion



Otto Hahn, auf dessen Forschungen zur Kernspaltung die Entwicklung der Atombombe letztlich zurückging, erfuhr im englischen Internierungslager Farm Hall von den furchtbaren Folgen seiner Arbeit. Er war so niedergeschlagen, dass seine Physikerkollegen einen Selbstmord befürchteten (29). Lise Meitner, die an den theoretischen Aspekten der Kernspaltung maßgeblich beteiligt war, aber eine Mitarbeit am Manhattan Project abgelehnt hatte, reagierte in ihrem Exil in Schweden verstört auf die Nachricht. Leider führte der Einsatz der Atombombe zu einem weiteren Rüstungswettlauf. Sowjetische Kernphysiker entwickelten ebenfalls die Bombe (2), während der ungarische Physiker Edward Teller ein Projekt vorantrieb, welches die logische Folge aus den neuen Erkenntnissen war: die Entwicklung der Wasserstoffbombe.

Die Fusion von Wasserstoff zu Helium, die dabei abläuft, setzt noch wesentlich mehr Energie frei als die Kernspaltung, weswegen eine tausendmal höhere Sprengkraft möglich wird als bei der Hiroshima-Bombe „Little Boy“, die einer Energie von 13 Kilotonnen TNT entspricht. Die stärkste Bombe, die jemals gezündet wurde, im Jahr 1961 von der Sowjetunion über der Insel Nowaja Semlja im Polarmeer, hatte eine Sprengkraft von 50 Megatonnen TNT, also etwa 4.000 Mal so viel wie „Little Boy“.

Die Öffentlichkeit, die immer nur von „Atomkrieg“ spricht, macht sich selten klar, dass die Zerstörungskraft von Wasserstoffbomben jene von Spaltbomben ähnlich in den Schatten stellt wie eine Atombombe konventionelle Waffen.

Millionenstädte mit ihrer ganzen Umgebung könnten von einem einzigen Sprengkopf ausgelöscht werden, wobei eine besonders abscheuliche Variation der Wasserstoffbombe noch nie eingesetzt wurde, bei der eine Ummantelung mit Uran 238 für Verdoppelung der Sprengkraft und Vervielfachung der radioaktiven Verseuchung sorgt.

Zorn kann einen überkommen angesichts der Verantwortungslosigkeit der Mächtigen, die dieser Bedrohung keine wirksamen Sicherheiten entgegensetzen. Hysterische Medien diskutieren Kriegsszenarien in Europa, haben aber vergessen, was die Sprengkraft von fünfzigtausend Hiroshima-Bomben bedeutet, die heute von US-Strategen als „Mini-Nukes“ bezeichnet werden (30). Das nukleare Vernichtungspotenzial in der heutigen Welt hat absurde Ausmaße angenommen. Laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI (31) verfügen die Atommächte derzeit über circa 14.000 Sprengköpfe (3), die Gesamtsprengkraft wird auf 5.000 Megatonnen TNT geschätzt, was etwa hundert großen Wasserstoffbomben entspricht.

Wohl fast alle Millionen- und Großstädte der Welt könnten damit ausgelöscht werden, aber das wäre, wenn man sich dieser Apokalypse überhaupt mit der Alltagssprache nähern will, noch nicht das Schlimmste. Die Explosionen und nachfolgenden Brände würden eine so gewaltige Menge von Staub in die Atmosphäre transportieren, dass sich nach Modellrechnungen die Durchschnittstemperatur über Jahre hinweg um 10 bis 20 Grad abkühlen würde (32). Die katastrophalen Folgen schließen die Möglichkeit des Untergangs der Art Homo sapiens als Ganzes ein.

Einige Male knapp entkommen



Nehmen Sie sich bitte einen Moment Zeit, über diesen Irrsinn nachzudenken. Tatsächlich sind wir also nach Millionen Jahren von Evolution mit unserer Intelligenz an einen Punkt gelangt, an dem die dadurch gemachten Entdeckungen unsere Art auslöschen könnten. Sollte die Menschheit im Universum einzigartig sein, wäre dies von einer geradezu unbeschreiblichen Tragik. Sollten andere intelligente Zivilisationen einmal von uns Kenntnis erhalten — was gar nicht so unwahrscheinlich ist —, würden wir dagegen wohl als Paradebeispiel kollektiven Wahnsinns gelten. Genau genommen, trifft dies jetzt bereits zu, denn wie inzwischen historisch belegt ist, befand sich die Welt bereits mehrmals an der Schwelle eines Atomkriegs.

Im Jahr 1983, während der US-Präsidentschaft von Ronald Reagan, einem aggressiv auftretenden kalten Krieger, hatte sich die NATO besonders drohend gebärdet. Das Manöver Able Archer schien der sowjetischen Führung eine verdeckte Erstschlagvorbereitung (33). Sie war derart beunruhigt, dass zu Zeiten der höchsten Alarmstufe ein Missverständnis durchaus eine nukleare Konfrontation hätte auslösen können. Im Rückblick war es vielleicht sogar segensreich, dass damals im NATO-Hauptquartier ein Spion saß, der aus erster Hand die sowjetischen Befürchtungen beruhigen konnte (4).

Starke Nerven besaß 1983 auch der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow, der auf einen Computerfehlalarm, der den Anflug amerikanischer Interkontinentalraketen meldete, besonnen reagierte. Noch näher am Atomkrieg war die Welt während der Kubakrise im Oktober 1962, als die USA drohten, sowjetische Militärbasen auf Kuba anzugreifen, auf denen Raketen mit Atomsprengköpfen stationiert waren. Bei einem militärischen Zwischenfall hing der Weltfrieden an einem seidenen Faden: Nur durch die Weigerung des U-Boot-Flottenkommandanten Wassili Archipow unterblieb der Abschuss eines atomaren Torpedos (34).
Aber auch politisch konnte die Krise nur durch die gemeinsame Besonnenheit von John F. Kennedy und seines Gegenspielers Nikita Chruschtschow abgewendet werden. Die dramatischen Hintergründe wurden erst viel später bekannt. Kennedy hatte nichts weniger getan, als Chruschtschows Einlenken mit der Begründung zu erbitten, er befürchte andernfalls einen Putsch vonseiten des Pentagon (35). Die hoch angespannte Situation war damals auch deshalb so gefährlich, weil der Einsatz der Atomwaffen keiner zentralen Leitung unterlag. Jeder Kommandeur, ja sogar einzelne Piloten, hätten mit einem eigenmächtigen Bombenabwurf damals einen Weltkrieg auslösen können. Die Notwendigkeit einer persönlichen Order durch den Präsidenten wurde erst später durch Kennedys Verteidigungsminister Robert McNamara eingeführt.

Stand also die Welt durch militärische Zuspitzungen bereits am Abgrund, gab es über längere Zeit hinweg eine politische Situation, die die Zivilisation in ein nukleares Chaos hätte stützen können. Kennedys militärische Berater, insbesondere der berüchtigte General Curtis Le May — später in der Figur des Dr. Strangelove von Stanley Kubik verewigt —, aber auch andere, versuchten Kennedy mehrmals zu überreden, einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion auszuführen. Die Gelegenheit, eine nukleare Überlegenheit auszunutzen, so die Argumentation, gehe sonst vorüber.

Die erste Diskussion dieser Art hatte Kennedy mit dem wütenden Ausruf „Und so etwas nennt sich die menschliche Rasse!“ verlassen, aber 1963 kamen die Generäle allen Ernstes darauf zurück. Wir wissen heute nur deswegen davon, weil Kennedy die Gespräche im Oval Office heimlich mit einem Tonband mitschnitt. Man diskutierte in diesem Kreis darüber, ob beispielsweise ein Verlust von zwanzig Millionen Menschenleben in den USA noch „hinnehmbar“ sei. Die Opfer des Erstschlags wurden dabei natürlich nicht gerechnet (5).

Verantwortungslose Gegenwart



Diese Ereignisse sind befremdlich, vor allem wenn man sich klarmacht, wozu die Mächtigen der Welt im Ernstfall fähig sind. Gleichzeitig wissen wir nichts davon, was in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern über die Gegenwart zu lesen sein wird — oder auch nicht mehr.

Realistisch ist vielleicht eine Wahrscheinlichkeit eines globalen Nuklearkrieges von ein bis zwei Prozent pro Jahr. Manche Gefahren mögen zwar geringer geworden sein, die stark verkürzten Vorwarnzeiten durch schnellere Raketen machen die Situation jedoch auch instabiler. Ein Oberst Petrow hätte im heutigen Zeitalter der Hyperschalltechnologie keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Besonnenheit einzubringen.

Grundsätzlich tendieren wir dazu, kleine Wahrscheinlichkeiten zu unterschätzen, ein Phänomen, dem Nassim Taleb sein Buch „Der schwarze Schwan“ widmete. Immer wieder wurde der Lauf der Welt von solchen nicht vorhersehbaren Ereignissen beeinflusst (6). Allein durch die Existenz und Einsatzbereitschaft dieser Waffen können unvorhersehbare Auslöser eine nukleare Apokalypse herbeiführen.

Ob man die Auseinandersetzung zwischen Kim Jong Un und Donald Trump im Jahr 2018 ganz ernst nehmen muss, ist eine andere Frage. Aber bei allen Menschen, die Befehlsgewalt über Atomwaffen haben, Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein vorauszusetzen, wäre wohl naiv.

Eine große Gefahr, die die Geschichte immer wieder vor Augen geführt hat, sind Kriege, die aus Anlass eines drohenden Staatsbankrotts begonnen werden. Die Krankheit des internationalen Finanzsystems, die derzeit von fast allen führenden Wirtschaftsnationen durch Gelddrucken übertüncht wird (7), ist alarmierend. Es gilt daher, sowohl dieses Problem zu lösen, als auch den gefährlichen Zusammenhang mit dem Weltfrieden zu erkennen. Letztlich kann man nur hoffen, dass die derzeit instabile Situation nicht in eine Apokalypse mündet.

Die internationale Vereinigung von Juristen gegen den Atomkrieg, IALANA, setzt sich seit Langem für eine nukleare Abrüstung ein. Dass ihr Anliegen nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die es verdient, hat wohl vielfältige Gründe. Einer davon ist sicher das erwähnte psychologische Dilemma, aus dem heraus Menschen das Dringliche vor das Wichtige stellen: Man beobachtet es privat und in der Politik. Würde ein Meteoriteneinschlag für das Jahr 2050 vorausgesagt, würde die Menschheit sicher in die Gänge kommen, etwas dagegen zu unternehmen. Die latente Gefahr, die von einem atomaren Schlagabtausch ausgeht, ist viel höher, wird aber in Ermangelung eines konkreten Datums wenig beachtet.

Spieltheorie der Verständigung oder Vernichtung



Seitdem Kennedy und Chruschtschow im Jahr 1963 einen Atomwaffenteststopp vereinbarten, hat es immer wieder Verträge zur nuklearen Abrüstung gegeben, die zwischenzeitlich zu einer Reduzierung der einsatzbereiten Sprengköpfe führten. Fraglich ist, ob die Vorschläge zur totalen Eliminierung von Atomwaffen je ernst gemeint waren. Tatsächlich hat wohl das „Gleichgewicht des Schreckens“ die direkte Konfrontation zwischen den Supermächten in den letzten siebzig Jahren verhindert.

Man trifft hier auf ein Dilemma: Das Beibehalten der atomaren Bewaffnung macht auf lange Sicht einen Atomkrieg wahrscheinlich, jeder Abrüstungsschritt führt jedoch zur Befürchtung einer Partei, sie könne ihre Zweitschlagfähigkeit verlieren und zum Angriffsziel werden. Umgekehrt beobachtet man, dass Länder atomar aufrüsten, weil sie dies als einzige wirkliche Versicherung ansehen, nicht destabilisiert oder angegriffen zu werden.

Für Abrüstungsbemühungen wäre vielleicht ein wissenschaftlicher Zugang nützlich, denn es handelt sich im Grunde um eine spieltheoretische Situation, ein Teilgebiet der Mathematik. Internationale Arbeitsgruppen von Militärs, Politikern und Wissenschaftlern müssten die Möglichkeiten ausloten, Atomwaffen vollständig zu vernichten, ohne dass für eine der Parteien objektiv oder subjektiv das Risiko steigt, in einen Krieg verwickelt zu werden. Im Hinblick auf die Gefahr, die gesamte Menschheit auszulöschen, ist aber jede Reduzierung der Overkill-Kapazität schon ein Schritt in die richtige Richtung (8).

Nicht zu unterschätzen ist das Risiko, dass nicht staatliche Akteure eines Tages Atomwaffen in die Hände bekommen. Die Anreicherung des spaltbaren Uran 235 aus Natururan erfordert derzeit Großtechnologie, die weithin sichtbar ist und daher relativ gut überwacht werden kann. Aber es ist keineswegs garantiert, dass dies immer so bleibt. In Kraftwerken anfallendes Plutonium ist ebenfalls waffenfähig, auch wenn der Explosionsmechanismus schwieriger zu realisieren ist. Der latenten Gefahr, dass Nuklearwaffen in falsche Hände geraten, kann man wohl nur mithilfe von geheimdienstlichen Methoden adäquat begegnen.

Es liegt in der menschlichen Natur, subtile Gefahren im Vergleich zu den bekannten zu unterschätzen, und dies ist wahrscheinlich in diesem Buch nicht anders.

Es könnte sein, dass die rasende Entwicklung der künstlichen Intelligenz neue Arten von Waffen entwickelt, deren Gefahr mit jener von Kernwaffen vergleichbar wird.

Wer den Trailer zu dem Film „Slaughterbots“ und den eindringlichen Appell von Stuart Russell (36), einem führenden Forscher auf dem Gebiet, gesehen hat, wird übereinstimmen, dass internationale Vereinbarungen zu Killerdrohnen und autonomen Waffensystemen dringend notwendig sind.

Wahrscheinlich werden bei den Überlegungen zur atomaren Abrüstung die konventionellen Waffen zu wenig mit einbezogen. Nicht nur fordern diese die meisten Opfer — die tödlichsten Instrumente aller Zeiten sind wohl einfache Schusswaffen —, sondern die Möglichkeit von konventionellen Kriegen müsste in jene spieltheoretischen Überlegungen einbezogen werden, die einer nuklearen Abrüstung vorausgehen. Die Welt wird der atomaren Gefahr nicht entgehen, wenn sie weiterhin konventionell aufrüstet.

Konventionell tot ist auch tot



Prinzipiell ist es ein interessanter Gedanke, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden, was ein wichtiges Kriterium bei der Abrüstung sein könnte. Bomber und Flugzeugträger sind sicher nicht defensiv, Boden-Luft-Raketen möglicherweise schon. Allerdings wird natürlich die Definition der Defensivwaffe dadurch diskreditiert, wenn man sie dafür einsetzt, Exporte in Krisengebiete zu rechtfertigen (9). Eines der großen Hindernisse auf dem Weg zur Abrüstung ist natürlich die Rüstungsindustrie, die bei ihrem Geschäft mit dem Tod offenbar wenig Skrupel verspürt.

Lange Zeit war die Regierung selbst in illegale Waffengeschäfte verwickelt — man denke an den Fall Uwe Barschel oder die Ära Strauß (37), aber noch heute gibt es einen schamlosen Drehtür-Lobbyismus zwischen Politik und Rüstungsindustrie — weltweit. Das Problem wird sich nicht lösen, solange Industrien in verschiedenen Ländern um Rüstungsaufträge konkurrieren und Waffen als normales Wirtschaftsgut in die Bilanzen eingehen. Auch dies ist eine der ungelösten Auswüchse des Kapitalismus, der die Welt in den Abgrund stürzen kann.

Das Langzeitziel kann nur sein, in einer immer mehr technisierten Welt kriegerische Konflikte ganz zu vermeiden. In früheren Zeiten konnten Kriege ebenfalls blutig sein, aber sie zerstörten nicht die Lebensgrundlagen in einem Ausmaß, wie das heute der Fall ist. In unserer Zivilisation, die von Technologien abhängig ist, an die wir uns schleichend gewöhnt haben, wird die Lose-lose-Situation eines Konfliktes immer deutlicher. Neue Bedrohungen sind entstanden. Würden heute beispielsweise alle Computer der Welt ausfallen, wäre dies eine humanitäre Katastrophe. Undenkbar ist ein Szenario dieser Art aber nicht — denn eine einzige Atombombe in der Atmosphäre kann mit dem sogenannten elektromagnetischen Puls den Großteil aller elektronischen Geräte in Tausenden Kilometern Entfernung vom Detonationspunkt lahmlegen (38).

Eigentlich muss man vernunftbegabten Menschen nicht erklären, wie absurd auch eine konventionelle militärische Auseinandersetzung in der heutigen Zeit ist. Haben wir Menschen nichts Besseres zu tun? Die ungenierte Diskussion von Kriegsszenarien in Europa, ohne dabei die katastrophalen Folgen zu erwähnen, ist daher wohl eine der großen Obszönitäten, die man beim Konsum der Medien heute beobachtet.

Landkarten werden mit Flugzeugen und Panzern bunt bedruckt — oft genug mit verzerrten Zahlen —, so als sei dies ein Spielfeld und nicht drohende Realität von Vernichtungskriegen, die Europa im letzten Jahrhundert zweimal erlebt hat. Man fragt sich, ob es noch Redakteure gibt, die einen Roman wie „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque gelesen haben. Artikelüberschriften wie „Genug gesprochen“, „Stärke zeigen“, „das Ende der Feigheit“ (10) sind abstoßende Beispiele für das Überschreiben der Kriegserinnerungen, die lange Zeit als warnendes Beispiel gedient hatten. Die Medien profitieren durch aggressive Berichterstattung, tragen aber nicht deren Risiken.



Widerwärtige Kriegsspielchen


Entsprechend schreitet die Militarisierung in Europa wieder voran. Planspiele werden entworfen (39), wie schnell Panzer von Bremen nach Litauen kommen, immer mehr Manöver werden veranstaltet, ganz so, als sei dies nicht kompletter Irrsinn. Wäre es nicht manchmal angebracht, bei Fernsehbildern von Verwüstungen daran zu erinnern, dass deutsche Städte vor 75 Jahren ähnlich ausgesehen haben? Wofür sollte eigentlich gekämpft werden? Für die Freiheit, für unseren demokratischen Rechtsstaat? Krieg bedeutet automatisch die Liquidierung praktisch aller Grundrechte, angefangen bei Menschenwürde, Leben und Gesundheit. Der Rechtsstaat hört im Krieg ohnehin auf zu existieren.

Neuerdings auftauchende Begehrlichkeiten deutscher Politiker, sich an Kriegen zu beteiligen (40), sind verfassungswidrig (41) und müssen mit allen rechtlichen Mitteln unterbunden werden. Früher war schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges nach Paragraf 80 Strafgesetzbuch strafbar, heute kann eine Aggression nach Paragraf 13 des Völkerstrafgesetzbuches verfolgt werden.

Der Wunsch nach Frieden ist in der Bevölkerung überwältigend, aber Initiativen, die diesem Wunsch Ausdruck verleihen, sind einer subtilen Diffamierung ausgesetzt. In grotesker Umkehr des politischen Spektrums und mit der schon besprochenen Technik der Verklammerung rückt man Menschen, die für Frieden eintreten, politisch nach „rechts“, während umgekehrt eine Partei, die einst der Friedensbewegung nahestand, die neue politische Farbe olivgrün angenommen hat. Auf diese Weise angegangen werden zum Beispiel der Moderator Ken Jebsen, der sich explizit pazifistisch äußert, und der Historiker Daniele Ganser, der ein Institut für Friedensforschung betreibt.

Es fällt aber auch auf, dass diejenigen Politiker, die noch die unmittelbaren Folgen des Krieges erlebt haben, in ihrem Denken und Handeln dem Frieden weit mehr verpflichtet waren. Der ehemalige Planungschef im Bundeskanzleramt und Publizist Albrecht Müller schrieb jüngst einen aufrüttelnden Kommentar (42), wie wenig eine gute Nachbarschaft der Völker Europas den heutigen Politikern noch wert ist. Der Theologe Eugen Drewermann vertritt seine pazifistischen Thesen mit wohl einzigartiger Überzeugungskraft (43). Diese Stimmen erhalten in den Medien aber kein großes Forum.

Können wir den Frieden erhalten, indem wir demonstrieren? Diese Form des politischen Handelns sollte mit Bedacht eingesetzt werden. Demonstrationen oder ein Generalstreik können wirksam sein zur Erhaltung des Status quo, um die Politik von verrückten Kriegshandlungen abzuhalten. Dennoch sind Demonstrationen meist zu sehr auf die Gegenwart fokussiert und von Massenpsychologie beeinflusst, als dass sie durchdachte Handlungsoptionen aufzeigen könnten. Viele sind wegen banaler Gruppenegoismen bereit, auf die Straße zu gehen, Schüler und Studenten oft um der Party willen. Dies soll nicht legitime Anliegen diskreditieren; dennoch ist die langfristige Sicherung des Friedens eine Aufgabe, die überlegtes Handeln erfordert, welches am ehesten durch die Einsicht der Entscheidungsträger zustande kommen wird.

Frieden der Wissenschaft



Die Bedrohungen des Friedens, denen wir uns heute gegenübersehen, wurden durch die Blüte der Naturwissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts ermöglicht, die eigentlich einen triumphalen Erfolg der Intelligenz von Homo sapiens darstellen. Seit Henri Becquerels Entdeckung der Radioaktivität war die Weiterentwicklung der darauf basierenden Technologien mehr oder weniger unvermeidlich, im weitesten Sinne wahrscheinlich schon mit der kopernikanischen Wende vorgezeichnet. Der Baum der Erkenntnis sollte den Frieden gefährden.

Die Entwicklung der Kernwaffen war ein unseliges Zusammentreffen von Wissenschaft und Politik. Offenbar hat diese Technologie die Welt grundlegender verändert als jede andere politische Entwicklung im 20. Jahrhundert.

Viel weniger ist im öffentlichen Bewusstsein, dass die Rückwirkungen auf die Naturwissenschaft ebenfalls einschneidend waren. Harmloses Streben nach Erkenntnis, belächelt von den Regierenden, aber auch frei von deren Machtinteressen, wurde plötzlich ein entscheidender Faktor beim Kampf um die Weltherrschaft.

Die Verbrechen des NS-Regimes hatten viele Millionen Tote und unendliches Leid zur Folge, die Vertreibung der damaligen wissenschaftlichen Elite aus Europa wirkt sich jedoch ebenfalls bis heute aus. Zunächst schadete Hitler mit der Verfolgung der Intelligenz sich selbst. Das Rechengenie Alan Turing war in Europa mit kriegsentscheidend, indem er den Enigma-Code knackte, der Nachrichten an deutsche U-Boote verschlüsselte. Leó Szilárd hatte ebenfalls fliehen müssen, ehe er 1939 Einstein aufsuchte, der schon 1933 emigriert war. Das friedliche Zusammenarbeiten der fähigsten Köpfe aus ganz Europa fand in den 1930er-Jahren ein jähes Ende, als Hitler mit seiner Rassenideologie die wissenschaftlichen Zentren zerstörte (11).

Rüstung im Großen und Kleinen



Die naturphilosophische Tradition der europäischen Physiker, die auch zur Kernspaltung geführt hatte, existierte nach dem Krieg nicht mehr. Die Denkweise, die Anfang des 20. Jahrhunderts aber zu dem außergewöhnlichen Erfolg der Physik geführt hatte, insbesondere der philosophische Zugang von Ernst Mach, Albert Einstein, Niels Bohr und Erwin Schrödinger, wurde komplett abgelöst von der technologisch geprägten Physik an den Beschleunigerlaboratorien. Diese führte zu einer Wissenschaft mit viel Wettbewerb, die bis heute andauert, ohne dass dadurch mehr fundamentale Entdeckungen gemacht wurden (44). Die Gründerväter dagegen wurden immer mehr als Grübler angesehen und fristeten ihr Leben zunehmend in akademischer Isolation.

Die derzeitige Grundlagenwissenschaft ist viel mehr mit dem Militärischen verbunden, als man sich bewusst ist. Die Erforschung der Natur im Kleinen, die in den letzten sieben Jahrzehnten in einer Tradition von Teilchenbeschleunigern durchgeführt wurde, hätte so kaum begonnen ohne das Atomwaffenlabor in Los Alamos. Die Beobachtung der Natur im Großen, die in den letzten vier Jahrzehnten mit Weltraumteleskopen eine Fülle von kosmologischen Erkenntnissen gewonnen hat, wäre nicht möglich gewesen ohne die militärisch motivierte Entwicklung der Raketentechnologie. Die beiden Zweige der Grundlagenwissenschaft profitierten also im Kleinen von der Produktion von Nuklearwaffen und im Großen von der Technik, diese ans Ziel zu bringen.

Dies ist weder Rechtfertigung von Rüstung noch Kritik an der Wissenschaft, man muss nur nüchtern feststellen, dass die Verbindungen bis heute ins Detail reichen. So hängt zum Beispiel die Datenauswertung der Teilchensuche in Untergrundlaboratorien maßgeblich davon ab, dass man versteht, unter welchen Bedingungen Atomkerne Neutronen absorbieren (45). Neutronen, die Auslöser von Kernspaltungen, sind aber umgekehrt intensiver Gegenstand der Atomwaffenforschung, welche entsprechender Geheimhaltung unterliegt. Auswertungen der Positionsdaten von Raumsonden benötigen zum Beispiel heute noch militärische Freigaben, auch die Forschungssatelliten der NASA stehen unter Kontrolle des National Reconnaissance Office, einer militärischen Einrichtung.

Die falsche Allianz



Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange fortführen, aber unter dem Gesichtspunkt der Friedenserhaltung lohnt sich eine allgemeine Betrachtung. Man kann den Zusammenhang zwischen Erkenntnis, Wissenschaft, Waffen, Militär und Macht einfach als wiederkehrendes Muster in der Geschichte sehen, das im Moment das westliche Imperium definiert. Dennoch: Die Nutzung der Kernkraft und die Mondlandung mögen die größten technischen Errungenschaften der Menschheit sein, die größten intellektuellen Leistungen sind sie nicht. Vielmehr wurden die Grundlagen dafür schon von Isaac Newton beziehungsweise den Pionieren der modernen Physik um 1900 gelegt.

Ihre Motivation entsprang ausschließlich der Neugier, die Natur zu verstehen. Jene Forscher fühlten sich jedenfalls mehr dem Frieden verpflichtet als die nachfolgende Generation, die das Forschungsergebnis von Los Alamos entweder verdrängt hatte oder durch dieses traumatisiert war. Einstein engagierte sich zeitlebens als Pazifist, Heisenberg (12) unterstützte den Widerstand gegen die atomare Bewaffnung, Bohr setzte sich 1950 in einem Offenen Brief an die Vereinten Nationen für Völkerverständigung ein.

Wissenschaft braucht eine Allianz mit dem Frieden, nicht mit Krieg. Denn die Entdeckung grundlegender Gesetze muss zu Technologien führen, die das weitere Überleben der Menschheit auf diesem Planeten garantieren, anstatt deren innere Konflikte eskalieren zu lassen.

Die Nähe der heutigen Grundlagenforschung zum Militär ist daher, langfristig gesehen, eine Bedrohung der Zivilisation.

Vielleicht ist aber auch dauerhafter Frieden und damit die Unabhängigkeit von Militärtechnologie eine Voraussetzung von wirklicher Wissenschaft. Mit der Abkehr von philosophischen Fragen und der Kultur von Big Science ging auch jene Faszination für die Natur verloren, welche die Fähigsten zum Dienst an der Menschheit bewegt hat. Mehr als je zuvor bedarf die Welt dieser wirklichen Elite: zur Erhaltung des Friedens und für andere Herausforderungen, die sicher kommen.

Silberstreif am Horizont



Eine nachhaltige Friedenssicherung muss die Ursachen von weltpolitischen Konflikten erforschen und mit wissenschaftlicher Methodik nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Das geopolitische Thema schlechthin, das Kriege und Konflikte verursacht, sind Energie und Rohstoffe. Es ist sicher kein Zufall, dass der Westen seit Jahrzehnten sich in den Ländern militärisch einmischt, aus denen er Erdöl importiert (46). Der strategische Kampf um fossile Energie ist daher ebenso Gift für den Frieden wie der Pakt mit der Atomkraft. Trotz aller Konflikte, die aus diesem Grund geführt werden, gibt es vielleicht Grund zu verhaltenem Optimismus.

Rohstoffe, auch wenn sie auf der Welt ungleich verteilt sein mögen, werden dann für alle ausreichend vorhanden sein, sobald sich eine globale Kreislaufwirtschaft ausgebildet hat. Dies ist aber letztlich eine lösbare technologische Frage. Ebenso verbessert hat sich die Perspektive hinsichtlich der weltweiten Energieversorgung. Öl und Gas könnten tatsächlich eines Tages obsolet werden.

Durch Fortschritte wie etwa den drastisch gestiegenen Wirkungsgrad von Solarzellen oder die Speicherfähigkeit von Batterien besteht die realistische Aussicht, den Energiebedarf der Menschheit aus regenerativen Quellen zu decken. Es ist eigentlich ganz einfach: Die Kernfusion in vernünftiger Entfernung, das heißt in der Sonne, zu nutzen, wird hoffentlich eines Tages dafür sorgen, dass wir die in der Nähe zerstörerische Technologie nicht gegen uns selbst einsetzen.


Quellen und Anmerkungen:

Die Anmerkungen und Quellen (29) bis (46) finden Sie direkt im Buch.

(1) Diese hatten sich mehrheitlich dafür ausgesprochen, eine Demonstration über unbewohntem Gebiet durchzuführen. Fast überflüssig zu sagen, dass Einstein nicht nur gegen den Einsatz der Atombombe war, sondern ihn auch laut kritisierte. Den Abwurf über Hiroshima bezeichnete er als Fehler, den über Nagasaki als Grausamkeit.
(2) Mit Unterstützung des deutschen Spions Klaus Fuchs.
(3) Die reine Anzahl hat damit seit dem Kalten Krieg abgenommen. Dennoch geben Grafiken wie https://de.wikipedia.org/wiki/Overkill die tatsächliche Bedrohung nicht wieder, die wesentlich von der Einsatzfähigkeit abhängt.
(4) Rainer Rupp, genannt „Topas“. Nach der Wende saß Rupp dafür zwölf Jahre im Gefängnis. Heute betätigt er sich publizistisch mit beachtlichem Hintergrundwissen.
(5) Zu den Hintergründen und der historischen Entwicklung dieser Staatsmacht parallel zum Präsidenten sind auch die Ansprachen von Dwight D. Eisenhower zum militärisch-industriellen Komplex und die Ansprache Kennedys zu den secret societies aufschlussreich (auf YouTube).
(6) Ein wichtiges Beispiel und für Taleb persönlich einschneidend war der völlig unerwartete Ausbruch des Bürgerkriegs im Libanon 1975.
(7) So äußerte sich zum Beispiel William White, der ehemalige Präsident der Bank für internationale Zusammenarbeit BIZ (YouTube: Interview mit William R. White at the Fund Experts Forum 2014, Finanz und Wirtschaft Forum).
(8) Anstatt über Waffen und Abschusseinrichtungen zu sprechen, scheint der Westen im Moment nur öffentliche Beschuldigungen zu setzen – ein Verhalten, das kein ernsthaftes Bemühen um Abrüstung erkennen lässt.
(9) Der ehemalige UN-Biowaffeninspekteur und Abgeordnete Jan van Aken hat jahrelang seine Reden im Bundestag mit der Aufforderung beendet, Deutschland möge gar keine Waffen exportieren – vergeblich.
(10) Drei Überschriften aus Tagesspiegel, FAZ und Spiegel.
(11) Leider gaben sich wenige Physiker, darunter die Nobelpreisträger Lenard und Stark, dafür her, über eine sogenannte „Deutsche Physik“ zu schwadronieren, die diesen Wahn verteidigte.
(12) Obwohl seine Rolle im Krieg ambivalent war: Er trat nicht als Regimegegner auf, brachte aber die Atomwaffenforschung auch nicht voran.

Alexander Unzicker
Alexander Unzicker ist theoretischer Physiker, Jurist und promovierter Neurowissenchaftler. Sein wissenschaftskritisches Buch „Vom Urknall zum Durchknall“ wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres gekürt. Neben seiner Physik-Kolumne beim Nachrichtenportal Telepolis schreibt er ebenfalls über zeitgeschichtliche Entwicklungen. Sein Hintergrund als Neurowissenschaftler erlaubt ihm einen besonders fundierten Blick auf Probleme, die die Welt heute für den menschlichen Verstand bereithält.





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