Mittwoch, 6. Oktober 2021

VOR UND NACH 72 JAHREN... - Harry Popow

 

VOR 72 JAHREN...


Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ anlässlich des 72. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949


Der Autor wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.

Träumender Trommler

Mama Tamara arbeitet inzwischen als Personalchefin beim 2. Gleisbau, eine wichtige Strecke für die WISMUT von Johanngeorgenstadt nach Aue im Erzgebirge. Henry und seine Geschwister werden von Tante Lotte versorgt. Mit ihr fahren sie im Sommer 1949 nach Rathen im Elbsandsteingebirge. Sie wohnen in der romantischen Burgruine Rathen, direkt über der Elbe. In der Burg ist ein Hotel untergebracht. Früher gehörte sie einem Schweizer Bankier, so ist zu erfahren. Später wird sich eine Sparkasse aus Berlin die „Ruine“ als Ferienheim einrichten. In Erinnerung bleiben die Wanderungen zum Amselsee und zur Bastei, in der Felsenbühne Rathen begeistert sie die Operette „Schwarzwaldmädel“. Die Burgkost ist schmal, deshalb holen sie beim Fleischer für fünfzig Pfennige heiße Knochenbrühe, denn der Hunger ist noch ein ständiger Begleiter. Henry zeichnet eine Skizze von der Burg. Außerdem will er „wissenschaftlich“ arbeiten, so beobachtet er mit seinem einrohrigen Fernglas, das er von seinem Papa hat, die täglichen Wolkenbewegungen und notiert`s in einem Heftchen. Er fühlt sich wohl. Schliesslich ist eine Karte an Mama fällig: Ich schreibe Dir den ersten Gruß aus dem Kurort Rathen. Sei bitte nicht traurig, daß ich solange nicht geschrieben habe. Eben kommen wir von einem Spaziergang zurück. Es geht uns hier sehr gut. Ich freue mich sehr über die herrliche Gegend. Gestern waren wir trotz schlechtem Wetter mit Eberhardt zum Felsen ‚Talwächter‘. Mama, ich bin wirklich schreibfaul. Herzliche Küsse von Deinem Henry.


Zurück nach Berlin-Friedrichshagen. In der Bölschestraße, der Hauptstraße, wird ein Jugendklub gegründet. Der gehört der neuen Pionierorganisation. Dort trifft man sich und bekommt auch blaue Halstücher. Henry will auch mitmachen. Er geht einfach hin. Der soeben gegründete Fanfarenzug zieht ihn an, vor allem das Trommeln. Man übt oft. Erst im Keller des Klubs, dann auf der Straße, wo viele interessiert zusehen. Das gefällt Henry. Und dann heißt es: „Wir bereiten uns auf eine große Sache vor ...“


Nach der Schule wird tüchtig geprobt. Fast jeden Abend. Dann ist es soweit. Ein neuer Staat wurde am 7. Oktober 1949 gegründet – die DDR! Der Fanfarenzug trifft sich am 11. Oktober mit Tausenden anderen im Lustgarten. Fackeln, Fanfaren, Menschen über Menschen. Und alle fröhlich und voller Erwartung. Extra für diesen Anlass wurden viele kleine Bäumchen am Rande des Platzes gepflanzt. Dieser historische Abend war ein unauslöschliches Erlebnis. Wenige Tage danach bekommt auch Henry sein blaues Halstuch. In der Pioniergruppe geht es lebendiger zu als in der Schule. Da gibt es Bücherabende, man übt sich im Laienspiel, man lernt Lieder wie „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“, „Dem Morgenrot entgegen“ und „Dunja unser Blümelein ...“ Er fühlt sich wohl, ist mittenmang. „Disziplin Pioniere!“, ermahnt oft der Gruppenleiter. Neue Worte für die Schüler. Langsam nisten sie sich ein in den Köpfen. Im Kino von Karlshorst besuchen die „Jungen Pioniere“ eine Veranstaltung mit Erich Weinert. Wer das ist? Der Gruppenleiter erklärt, es ist ein Schriftsteller, der in die Sowjetunion emigrieren musste und dort im Nationalkomitee Freies Deutschland gegen die Faschisten gekämpft hat. Dieser Mann beeindruckte Henry ungemein.


Henry ist seit der Scheidung der Eltern mit seinen Geschwistern oft alleine. Mama arbeitet im Erzgebirge, zum Vater gibt es keine Kontakte und die Haushälterin Tante Lotte hat andere Sorgen, als die vielen Fragen zu beantworten, besonders die von Henry. Es interessiert ihn, warum wird denn soviel aufgebaut, wenn doch wieder Krieg kommen könnte, wie man im Radio immer hört ... Aber er bleibt alleine mit seinen Fragen … Viel später wird er erkennen, mit den Fragen fängt das Denken an.



AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. Taschenbuch: 500 Seiten, Verlag: epubli; Auflage 1 (18. Februar 2019), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3748512988, ISBN-13: ISBN: 9783748512981, Preis: 26,99 Euro

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NACH 72 JAHREN...



Das neueste Buch von Harry Popow:




Harry Popow: "DER MENSCH IM TEUFELSKREIS", Sprache: Deutsch, ISBN: 9783754166666, Format: DIN A5 hoch, Seiten: 384, Erscheinungsdatum: 18.09.2021

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Exposè (Textauszug)


Nach nahezu 200 Jahren völliger Stille in der Gruft von Dr. Faustus, den Goethe als den modernen Menschen darzustellen versuchte, erwacht Faust durch ungeheuren Lärm. Neue Särge werden in den Friedhof verbracht und neue Gräber geschaufelt. Bis das Getöse und Gedonner immer aufdringlicher wird. Er hält es nicht mehr aus - der Greis im Oberrock des 18. Jahrhunderts. Klettert aus der Grube und will es wissen: Was passiert in der Welt? Manche schreien außerhalb des Friedhofs das Wort „Pandemie“, andere wieder „Klima“, andere wieder „Krieg“, daneben immer zu hören: „Vorsicht vor einem Linksruck, da soll der Mensch ja erzogen werden.“ Dazu fuchtelt die Politik hilflos mit den Armen und jagt den Völkern Angst ein. Grauer Himmel über dem Planeten statt ein „Himmel auf Erden?“ Dem Alten wird übel: „Sind denn alle des Teufels?“

Im Streben nach Erkenntnissen will er ein Mensch bleiben, ein moderner, der stets von sich aus bejaht oder verneint, ohne einen Teufel befragen zu müssen. Um Abhilfe zu schaffen? Nein, dazu ist er nicht befugt, aber für Wißbegier nicht zu alt.

In dieser 382 Seiten umfassenden Lektüre bemüht sich Dr. Faustus – gemeinsam mit seinen gleichgesinnten Freunden – um die Dialektik der Widersprüche, wie es Goethe und alle fortschrittlichen deutschen Dichter und Denker bereits vor ihm getan haben. Sie stoßen auf Konflikte, lösbare und unlösbare. Und auf eine bodenlose Ignoranz, die in der Marktwirtschaft ihr Zuhause hat. Erschrocken wird er sich fragen, ob sein Ausstieg aus der Gruft nicht zu einer neuen und sehr „modernen“ führt? Erst tot und dann noch toter? Wer lässt sich das schon gefallen in diesem Teufelskreis? (...)



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