Montag, 18. Juli 2022

Russland - Teil des globalen Südens - Domenico Losurdo - LZ

 Entnommen: https://linkezeitung.de/2022/07/18/domenico-losurdo-ueber-russland-teil-des-globalen-suedens/

Domenico Losurdo über Russland: Teil des globalen Südens

VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 18. JULI 2022

Andreas Wehr – http://www.andreas-wehr.eu 

Der Historiker und Philosoph Domenico Losurdo gilt als einer der bedeutendsten und zugleich produktivsten marxistischen Theoretiker der Gegenwart. Er veröffentlichte nicht weniger als 32 Bücher. Und es gibt weitere unveröffentlichte Manuskripte. Seine Bibliografie weist 200 Essays und Artikel auf. Darüber hinaus verfasste er Beiträge für 31 Bücher anderer Autoren. In Deutschland sind seine Werke vor allem im PapyRossa Verlag aber auch beim Argument-Verlag sowie bei VSA erschienen. Übersetzt wurden seine Bücher in zahlreiche Sprachen. Allein das Werk „Freiheit als Privileg – Eine Gegengeschichte des Liberalismus“ erschien in zwölf Sprachen.[1]

Wie keinem anderen gelang es Losurdo, den traditionell engen eurozentristischen Horizont europäischer Marxisten zu überwinden. Geschichte und Gegenwart des globalen Südens waren in seinem Denken und seinen Arbeiten stets präsent. Und so überrascht es nicht, dass er heute in vielen Ländern des Südens, etwa in Brasilien, intensiv gelesen wird. Nirgendwo sonst wurden auch so viele Bücher von ihm verkauft wie in diesem südamerikanischen Land.

Westlicher und östlicher Marxismus

Sein 2017 in Italien veröffentlichtes Buch „Il marxisme occidentale. Come naque, come morì, come può rinascere“ – auf Deutsch 2021 unter dem Titel „Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte“ erschienen – hat die Entfremdung zwischen westlichem und östlichem Marxismus zum Gegenstand. Was hat Losurdo unter diesen beiden Marxismen verstanden? „Geboren im Herzen des Westens, hat sich der Marxismus mit der Oktoberrevolution in jeden Winkel der Erde ausgebreitet, wobei er entschieden auch in ökonomisch und sozial weniger entwickelte Länder und Gebiete mit recht unterschiedlicher Kultur eindrang. Mit der jüdisch-christlichen Tradition als Hintergrund schwangen im westlichen Marxismus (…) nicht selten messianische Motive mit (die Erwartung eines ‚Kommunismus‘, mit dem jeglicher Konflikt und Widerspruch verschwinden sollte, damit eine Art ‚Ende der Geschichte‘). Der Messianismus fehlt hingegen weitgehend in einer Kultur wie der chinesischen, die in ihrer tausendjährigen Entwicklung vor allem durch ihre Aufmerksamkeit für die weltliche und soziale Realität gekennzeichnet ist. Die weltweite Ausbreitung des Marxismus ist der Anfang eines Spaltungsprozesses, der die andere Seite seines aufsehenerregenden Sieges ist.“ [2]

Zu den vom östlichen Marxismus geprägten Staaten zählte Losurdo neben China auch Vietnam sowie Kuba, obwohl sich dieses Land in einer ganz anderen Weltregion befindet und sich seine Führer – zumindest in den ersten Jahren nach der Revolution – stark von messianischen Gefühlen leiten ließen.

Die Überwindung der Spaltung zwischen westlichem und östlichem Marxismus sah Losurdo als zentrale Aufgabe der Linken: „Während sich die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges verdichten, erweist sich eine solche Spaltung als äußerst unglücklich. Es ist an der Zeit, sie nun zu beenden. Natürlich werden dadurch nicht die Unterschiede verschwinden, die weiter zwischen Ost und West bestehen, was die Kultur, den Stand der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung und die zu bewältigenden Aufgaben angeht: Im Osten kann die sozialistische Perspektive nicht von der Vollendung der antikolonialen Revolution auf allen Ebenen absehen; im Westen führt der Weg zu einer sozialistischen Perspektive über den Kampf gegen einen Kapitalismus, der gleichbedeutend ist mit der Verschärfung der sozialen Polarisierung und zunehmenden militärischen Versuchungen.“ [3]

Eine erweiterte dritte Welt  

In seinem 2014 erschienenen Buches „La sinistra absente – Crisi, societá dello spectacolo, guerra“ – auf Deutsch 2017 unter dem Titel „Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“ erschienen – beschreibt Domenico Losurdo die Weltlage wie sie sich ihm darbot: „Die Dritte Welt, die Gesamtheit der Länder, die eine mehr oder weniger lange Periode der kolonialen oder halbkolonialen Herrschaft hinter sich haben, ist vom politisch-militärischen Stadium des nationalen Befreiungskampfes zum politisch-ökonomischen übergegangen. Was Lenin die ‚politische Annexion‘ nannte, d. h. die direkte über ein Volk ausgeübte Kolonialherrschaft, dem das Recht verweigert wurde, sich als unabhängiger Nationalstaat zu konstituieren, ist weitgehend Vergangenheit. Was es noch gibt, ist die ‚ökonomische Annexion‘, heute potenziert durch die militärische Bedrohung (in Form eines gigantischen Militärapparats, der auch ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat in Aktion treten kann) und die juristische (die von einem weitgehend vom Westen kontrollierten und benutzten ‚Internationalem Strafgerichtshof‘ ausgeht).“ [4]

Nicht mehr vorhanden ist der alte Ost-West Systemgegensatz: „Während die Dritte Welt sich in radikaler Weise geändert hat, ist die Zweite Welt buchstäblich verschwunden. Mit diesem Ausdruck belegte man traditionell die Länder sozialistischer Orientierung, die eine Zeit lang in einem ’sozialistischen Lager‘ ökonomischer und politisch-militärischer Art zusammengeschlossen waren. Der Kapitalismus ist nach Osteuropa, heute zu einem großen Teil in die NATO eingegliedert, zurückgekehrt. Auf der anderen Seite stellen sich China, Vietnam und in letzter Zeit auch Kuba auf internationaler Ebene nicht mehr als alternatives Gesellschaftsmodell gegen das herrschende dar, beanspruchen nicht mehr, der ‚Leuchtturm des Sozialismus‘ im einen oder anderen Teil der Welt zu sein. An erster Stelle engagieren sie sich, zu den industriell und technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen, um den Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben, mit dem Ziel auch, für die regierende kommunistische Partei die gesellschaftliche Konsensbasis zu verbreitern und zu konsolidieren sowie vom Westen und insbesondere seiner Führungsmacht inszenierte Destabilisierungsversuche zu vereiteln. Nicht weil die sozialistische Orientierung aufgegeben würde, sondern aufgrund der neuen Prioritätenskala tendieren China, Vietnam und Kuba dazu, Teil der Dritten Welt zu werden. (…)“ [5]

Anders verlief die Entwicklung in Europa. Die früheren europäischen sozialistischen Länder Mittelosteuropas sind längst feste Bestandteile der westlichen Welt. Bis auf einige Länder des Balkans sind sie Mitglieder der NATO sowie der Europäischen Union, auch wenn sie in der EU aufgrund ihres vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstands lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind sogar Republiken der ehemaligen Sowjetunion Mitglieder geworden. Und geht es nach den Machtzentralen des Westens, so sollen auch Georgien, Moldawien, vor allem aber die Ukraine diesen Weg gehen.

Russland als Teil der erweiterten dritten Welt

Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Kurs schlug nach einigen Kehrtwendungen Russland, das Kernland der ehemaligen Sowjetunion, ein. Vorbei sind die Jahre, in denen es sich zwischen 1991 und 2014 – erst unter Boris Jelzin und dann unter Wladimir Putin – selbst zum Westen rechnete. Es war die Zeit der Mitgliedschaft des Landes im elitären Klub der G 8, dem Machtzentrum der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt. Doch bereits Anfang der 2000er Jahre begann der Entfremdungsprozess. Unter der Präsidentschaft Putins durchlief dieser Prozess mehrere Etappen. Nach der Annexion der Krim kam es 2014 zum Bruch. Moskau wurde aus der G8 geworfen und mit weitreichenden Sanktionen belegt. In seinem in jenem Jahr erschienenen Buch „Wenn die Linke fehlt…“ bewertet Losurdo diese Entwicklung: „Zu dieser erweiterten Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser Weise auch Russland hinzugekommen. Natürlich handelt es sich um ein Land, das eine mit imperialistischem Expansionismus durchsetzte Geschichte hinter sich hat, das aber aufgrund seiner ökonomisch-sozialen Fragilität und seiner ethnischen Heterogenität schnell in eine halbabhängige Lage geraten kann.“ [6]

Losurdo durchschreitet in großen Schritten die wechselvolle Geschichte Russlands, wobei er besonders auf die wiederholten Versuche des Deutschen Reiches hinweist, das Riesenland aufzuteilen und in eine gigantische Kolonie – in das „deutsche Indien“, wie Hitler zu sagen pflegte – zu verwandeln: „Nachdem es fast zwei Jahrhunderte die Mongolenherrschaft ertragen und lange den Albtraum der Ordensritter erlebt hatte, sah Russland Anfang 1600 seine Hauptstadt von den Polen besetzt; ca. hundert Jahre später erfolgte die Invasion durch Karl XII. von Schweden und wieder ein Jahrhundert später diejenige Napoleons; am Ende des Ersten Weltkriegs hatte Russland nicht nur die Intervention der Westmächte zu ertragen, sondern auch einen Balkanisierungsprozess, der nicht aufzuhalten schien. Von diesem Prozess ging Hitler aus, um den später mit der Operation Barbarossa umgesetzten Plan zu hegen, der das riesige eurasische Land in eine immense Kolonie und einen immensen Pool an Sklavenarbeitskraft verwandeln sollte. Am Ende der im Kalten Krieg erlittenen Niederlage fiel Russland für einige Zeit zurück in eine Lage, die derjenigen, die auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg folgte, ziemlich ähnlich war; noch heute schafft das unerbittliche Vordringen der NATO in Osteuropa eine gefahrenreiche Situation. Wir haben damit eine erweiterte Dritte Welt vor uns, die die Schwellenländer und die sozialistisch orientierten Länder umfasst und insgesamt vom Kampf um die Realisierung oder die endgültige Durchsetzung zweier Menschenrechte charakterisiert ist, nämlich der ‚Freiheit von Not‘ und der ‚Freiheit von Angst‘. Diese größere Dritte Welt, die natürlich reich an Widersprüchen in ihrem Inneren und gewiss nicht frei von Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, stellt trotzdem eine Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der internen Ebene der einzelnen Länder als bezüglich der internationalen Arbeitsteilung, die so lang dadurch gekennzeichnet war, dass der Westen die Hochtechnologie monopolisiert und den Rest der Welt auf einen Lieferanten von Rohstoffen, von Niedriglohnarbeit und nicht zuletzt auf einen Absatzmarkt für anspruchsvollere Waren aus den entwickelten kapitalistischen Ländern reduziert hat.“ [7]

Diese Sichtweise ist auch die des Philosophen und Publizisten Arnold Schölzel. In einem Artikel mit der Überschrift „Imperialismus-Inflation“, in dem er sich kritisch mit Positionen auseinandersetzt, die Russland heute als imperialistisches Land bewerten, schreibt er: „Die Vernachlässigung dieser Perspektive auf Russland, d. h. das seit mehr als 100 Jahren vorherrschende Bestreben, dieses Land zu kolonialisieren, zu ignorieren, scheint mir ein Hauptgrund für heutige unterschiedliche Beurteilungen des Ukraine-Kriegs zu sein.“ [8]

„Die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges“, die Losurdo schon vor acht Jahren sah, sind inzwischen bedrohlich nahe gekommen. Tatsächlich begann der Krieg um die Ukraine bereits 2014. Er ist mittlerweile „Der längste Krieg in Europa seit 1945“, wie der Titel eines Buches von Ulrich Heyden lautet. [9]

In der Reaktion der übrigen dritten Welt auf das russische Vorgehen zeigt sich die Richtigkeit der damaligen Analyse Losurdos: China schloss noch kurz vor dem russischen Angriff demonstrativ einen Freundschaftsvertrag mit dem Land. Weitere gewichtige Staaten des Südens wie Argentinien, Brasilien, Indien, Indonesien, Pakistan, Senegal, Südafrika und Vietnam weigern sich beharrlich, die westliche Sanktionspolitik gegenüber Russland mitzutragen. Im Gegenteil: Staaten wie Indien und Indonesien weiten sogar ihren Wirtschaftsaustausch mit dem verfemten Land aus! Mit der erweiterten dritten Welt entsteht zwar kein neuer, in sich geschlossener Machtblock, dazu sind die Unterschiede unter den einzelnen Ländern viel zu groß. Dennoch blockiert diese heterogene Ablehnungsfront zumindest die vom Westen angestrebte totale Isolation Russlands. Damit werden dem Westen seine Grenzen aufgezeigt. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung muss das anerkennen. Über Putin heißt es dort: „In einem hat er sich nicht vertan: Seine Allianz mit China hält, und die Mittelposition von Ländern wie Indien kommt ihm ebenfalls zugute, sogar materiell. Wenn man so will, ist der Ukrainekrieg tatsächlich die erste Schlacht des multipolaren Zeitalters.“ [10]

Die verbliebene westliche Linke sollte diese Ereignisse genau studieren, denn „die Überwindung der verhängnisvollen zeitlichen und räumlichen Amputation des Marxismus wird nicht möglich sein, wenn die Marxisten im Westen die Beziehung zur weltweiten antikolonialen Revolution (oft angeführt von kommunistischen Parteien) nicht wiederherstellen, jener Revolution, die der Hauptinhalt des 20. Jahrhunderts war und weiterhin eine wesentliche Rolle in dem Jahrhundert spielt, in das wir inzwischen eingetreten sind. Eine solche Beziehung wiederherzustellen, bedeutet an erster Stelle, die koloniale Frage wieder in vollem Umfange in die historische Bilanz des 20. Jahrhunderts und des Marxismus des 20. Jahrhunderts einzuführen.“ [11]

 

[1] Andreas Wehr zu seinem Leben und Werk: „Domenico Losurdo – Theoretiker des Marxismus“,

[2] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, PapyRossa Verlag, Köln 2018, S. 258

[3] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O., S. 260 f.

[4] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, PapyRossa Verlag, Köln 2017, S. 341 f.

[5] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, S. 343

[6] Ebenda

[7] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, a.a.O., S. 344

[8] Arnold Schölzel, Imperialismus-Inflation, in: Junge Welt vom 06.07.2022

[9] Vgl. Andreas Wehr, Protokoll des ukrainischen Bürgerkriegs, Rezension des Buches von Ulrich Heyden, Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass

[10] Nicolas Busse, Die erste Schlacht der neuen Zeit, in: FAZ vom 14.07.2022

[11] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O. S. 249

https://www.andreas-wehr.eu/domenico-losurdo-ueber-russland-teil-des-globalen-suedens.html


Sonntag, 17. Juli 2022

Nur ein "schmutziges Abkommen" mit Moskau könnte die Ukraine retten - Teil 2 - Rainer Rupp, LZ

 Entnommen: https://linkezeitung.de/2022/07/17/nur-ein-schmutziges-abkommen-mit-moskau-koennte-die-ukraine-retten-teil-2/

Nur ein „schmutziges Abkommen“ mit Moskau könnte die Ukraine retten – Teil 2

VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 17. JULI 2022 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR


von Rainer Rupp – https://pressefreiheit.rtde.tech  


Teil 1 finden Sie hier.

Trotz seiner militärischen Siege steckt Russland aus Sicht des US-Wissenschaftlers Dr. Gordon Hahn in der Ukraine in einer Art militärpolitischen Zwickmühle. Denn mit jedem weiteren Sieg, mit dem Russland im Rahmen seiner Militäroperation weiter in den Westen der Ukraine vordringt, werden laut Dr. Hahn Moskaus Ukraine-Probleme größer. Dabei geht der US-Wissenschaftler hauptsächlich von der Gefahr einer mehr oder weniger starken Partisanenbewegung gegen die russischen Streitkräfte, deren zivile Begleiter und ukrainische Helfer aus.

Nur ein „schmutziges Abkommen“ mit Moskau könnte die Ukraine retten – Teil 1

Im Gegensatz zum US-Mainstream hat Dr. Hahn die Entwicklung in der Ukraine seit dem Maidan-Putsch durch gewaltbereite Rechtsextremisten im Jahr 2014 stets korrekt analysiert, realistisch und emotionslos. Wie andere herausragende US-Kenner der Materie hatte auch er von Anfang an die NATO-Osterweiterung und vor allem die Hochrüstung der Ukraine durch die USA bzw. die NATO scharf kritisiert, weil die Folgen, die jetzt eingetretenen sind, schon damals absehbar waren. Daher sollte man Dr. Hahns Warnung nicht als alarmistisches westliches Wunschdenken abtun.

Tatsächlich kamen viele der faschistischen Maidan-Putschisten aus der westukrainischen Stadt Lwow und aus den benachbarten Gebieten, in denen sich die Ursprünge der verschiedenen, untereinander konkurrierenden neonazistischen Bewegungen befinden. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 hat sich Stepan Banderas verbrecherische Ideologie im ganzen Land verbreitet und auch in der fernen Hauptstadt Kiew und selbst in Odessa metastasiert. Von daher ist es durchaus realistisch zu erwarten, dass Terrorangriffe irregulärer ukrainischer Gruppen zunehmen werden, je näher die Russen gen Lwow an der Westgrenze der Ukraine und an die polnische Grenze vorrückten.

Aus diesen Überlegungen leitet Dr. Hahn seine These ab, dass Moskau, wenn es nach dem Sieg den Frieden in der Ukraine nicht verlieren will, vor der schwierigen Frage steht, an welcher geographischen Linie es am besten seine militärische Sonderoperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine stoppt.

„Kiew zu erobern und die Hälfte bis zu zwei Drittel des Landes (Ukraine) zu besetzen“, sei nicht Putins ursprüngliches Ziel gewesen, schreibt Dr. Hahn unter Verweis auf eine Studie des Brookings Institute aus den USA und ergänzt: „Aber je länger Kiew sich weigert, mit Moskau zu verhandeln, und der Westen weiterhin militärische und finanzielle Hilfe für Kiew leistet, … desto mehr wird die territoriale Ausweitung der russischen militärischen Sonderoperation in Richtung Westukraine zu einem notwendigen Ziel.“

Mit „notwendigem Ziel“ spricht Dr, Hahn das Problem der Russen an, das dadurch entsteht, dass sich die Regierung von Präsident Wladimir Selenskij in Kiew vor allem auf US- bzw. britischen Druck den von den Russen geforderten, zielgerichteten und strukturierten Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Konflikts verweigert. Während die Russen verhandeln wollen, ohne auf ihre hart erkämpften militärischen Vorteile zu verzichten, wollen Selenskij und USA bzw. NATO einen Waffenstillstand. An dem ist Russland aus guten Gründen wiederum nicht interessiert. Denn ein Waffenstillstand gäbe dem Westen und Kiew Zeit für den Bau neuer Befestigungen, Zeit für mehr Nachschub an Soldaten, Waffen und Material und für die dringend notwendigen Truppenverlegungen, die dann ohne Angst vor russischem Beschuss durchgeführt werden könnten. Nur mit einem Waffenstillstand könnten die stark angeschlagene Moral und materielle Verfassung der ukrainischen Streitkräfte wenigstens teilweise verbessert werden.

Ohne Harmonie zwischen Deutschland und Russland kann Europa weder sicher noch wohlhabend sein
Im vergangenen März hatte Russland bei den Verhandlungen mit der Ukraine in Istanbul nach einer diplomatischen Lösung der Krise und nach einem Modus Vivendi gesucht, der sich auf die Donbassrepubliken Donezk und Lugansk sowie auf die Anerkennung der Krim als russisches Hoheitsgebiet beschränkte. Aufgrund des Kiew von angloamerikanischer Seite aufgezwungenen Abbruchs der Istanbuler Verhandlungen und der Verweigerung weiterer Gespräche haben die Russen inzwischen weitere russischsprechende Gebiete der Ukraine erobert. Mariupol am Asowschen Meer ist ein Beispiel. Dort wurden die russischen Truppen als Befreier vom Joch der Asow-Nazis gefeiert, die in der 400.000-Einwohner-Stadt ein brutales Willkür-Regime geführt hatten.

Inzwischen sind weitere russischsprechende Regionen entlang der Schwarzmeerküste befreit worden. Nur die von den Ukrainern schwer befestigte Schwarzmeer-Perle Odessa fehlt noch, damit die Rumpfukraine mit Sitz in Kiew ganz von der Küste abgeschnitten ist. In Abwesenheit jeglichen Kiewer Interesses an einer Verhandlungslösung und vor dem Hintergrund des ständig wiederholten Befehls von Präsident Selenskij ans ukrainische Militär, mit allen Mitteln weiterzukämpfen und die Krim und den Donbass zurückzuerobern, bleibt auch den Russen nichts anderes übrig als weiterzukämpfen, und das bedeutet, immer weiter gen Westen in die Ukraine vorzudringen. Zugleich bedeutet das aber auch, dass die so neu hinzugewonnen Gebiete, vor allem die politisch oder strategisch wichtigen, nicht einfach an die Ukraine zurückgegeben würden, wenn es irgendwann doch zu einer Verhandlungslösung mit der Rumpfukraine kommen sollte. Mit anderen Worten, mit jedem weiteren Tag der Verhandlungsverweigerung Kiews wird das Territorium der Rumpfukraine kleiner und eine eventuelle diplomatische Lösung der Krise schwieriger.

Derzeit deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die ukrainische Frontlinie im westlichen Donbass wieder einmal vor dem Zusammenbruch steht und nur noch Tage, höchstens wenige Wochen halten wird. Das hat Spekulationen belebt, in welcher Richtung die bald freigesetzten russischen „Taktischen Kampfbataillone“ in der nächsten Phase der Sonderoperation eingesetzt werden. Sowohl der Südwesten mit Ziel Odessa als auch das Voranschieben der Front im Zentrum der Ukraine bis hin zum Ostufer des großen Flusses Dnjepr, der die Ukraine ziemlich mittig von Nord nach Süd durchquert, stehen zur Diskussion.

Der Vorteil dieser Grenzziehung wäre, dass der Dnjepr eine natürliche und leicht zu kontrollierende Grenze und Schutz gegen zukünftig zu erwartende Infiltration terroristische Gruppen aus der westlichen Rumpfukraine böte.

NATO-Artillerie für Russland: Erbeutet oder von ukrainischen Soldaten verhökert?
Allerdings ist das bei Weitem nicht die beste Lösung für Russland, denn wie wir weiter oben gelesen haben, hatten Putin und der Kreml sicherlich nicht im Sinn, die Hälfte der Ukraine bis zum Dnjepr zu besetzen oder womöglich noch weiterzugehen.

Möglichst viel Territorium der Ukraine zu besetzen und zu kontrollieren, ist nicht im Interesse Moskaus, denn es löst sein Problem mit der NATO und sein Ziel der Entnazifizierung der Ukraine nicht. Denn als Besetzungsmacht, und als solche würde Russland in der Westukraine empfunden, könnte Moskau seine Probleme nicht beheben, sondern höchstens verschlimmern. Deshalb hülfe ein russischer Siegfrieden nicht. Die Verwaltung der Westukraine mit Russland als Besatzungsmacht würde den Großteil der lokalen Bevölkerung den USA und der NATO vollends in die Arme treiben.

Was Russland in der Rumpfukraine – wie auch immer diese aussieht – braucht, ist mittelfristig eine repräsentative, demokratisch gewählte Regierung, die Autorität hat und von der Bevölkerung anerkannt und getragen wird. Ein solche Regierung würde das Diktat eines russischen Siegfriedens nicht anerkennen. Die Selenskij-Regierung kommt dafür nicht in Frage. Sie hat bei der Bevölkerung jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

Aber wie will Russland zu einer Verhandlungslösung der aktuellen militärischen Krise kommen? Das ginge nur, wenn die USA und die wichtigsten Länder der EU massiven Druck auf die ukrainische Regierung ausüben würden. Mit Selenskij und den aktuellen US/EU-Regierungen ist das unmöglich. Vorher müssten realistische Politiker in den USA und in Europa an die Macht kommen. Erst dann könnte eine Verhandlungslösung zwischen Russland und der Rumpfukraine zustande kommen, gefolgt von einem Friedensvertrag, in dessen Rahmen sich die Regierung der Rumpfukraine auf ihrem Hoheitsgebiet selbst um die Einhaltung der Vertragsbedingungen kümmert, namentlich die Einhaltung der militärischen und politischen Neutralität und die Entnazifizierung, u. a. die Entwaffnung der Nazis sowiedas Verbot aller Nazi-Organisationen und ihrer Propaganda.

Damit die Regierung einer unabhängigen Rumpfukraine das tun könnte, müsse sie finanziell stark und innenpolitisch stabil sein. Dr. Hahn erinnert uns jedoch in seinem Artikel daran, dass das Ergebnis der militärischen Siege Russlands in der Ukraine „eine territorial zerstückelte, wirtschaftlich nicht überlebensfähige und am NATO-Tropf hängende, innenpolitisch total zerstrittene, instabile Rumpfukraine“ ist.

Wenn wir vor diesem Hintergrund unsere Überlegungen fortführen und rein theoretisch annehmen, dass die russische Sonderoperation in der Ukraine am Westufer des Dnjepr ihr Ende finden würde, dann könnte mit ziemlicher Zuversicht angenommen werden, dass angesichts der starken innenpolitischen Verwerfungen – besonders nach der Niederlage des ukrainischen Militärs und Grabenkämpfe in der Selenskij-Regierung – die Stadt Lwow in der Westukraine zur inoffiziellen Hauptstadt der Rumpfukraine ausgerufen würde. Selbstredend würden die Neofaschisten in der neuen Regierung weiterhin den Ton angeben. Zugleich würde die Rumpfukraine für ihr Überleben ganz am Finanz-Tropf der USA und der anderen NATO-Länder hängen.

„Unangenehm für den kollektiven Westen“: In Russland sieht man die „Turbinen-Affäre“ gelassen
Dr. Hahn trifft in seiner Analyse den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt, dass aus russischer Sicht eine solche Rumpfukraine nicht die nötige Sicherheit gegen ein Fortbestehen der Bedrohung durch die NATO böte. Denn die NATO würde sich in einem solchen Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Neonazis in dieser Rumpfukraine einnisten.

Zugleich geht Dr. Hahn davon aus, dass Russland, egal wie die Rumpfukraine aussehen wird, Gefahr läuft, auf Jahre hinaus in der ganzen Ukraine Angriffen von Partisanen ausgesetzt zu sein. Während der Großteil von Dr. Hahns Analysen gut fundiert sind, kann der Autor dieser Zeilen dieser pauschalen Prognose nicht zustimmen. Zwar müsste Russland womöglich auf etliche Jahre mit terroristischen Angriffen im Westen der Ukraine rechnen, z. B. wenn dort die „Banderistan-Regionen“, also die rechtsextremen Hochburgen, ebenfalls besetzen würden. Dagegen existiert die Gefahr von Partisanen oder Terrorangriffen nicht oder nur zu einem geringen Maß in den anderen Teilen der Ukraine, die grob vier Fünftel des aktuellen ukrainischen Staatsgebietes ausmachen.

In den russischsprachigen Teilen der Ost- und Südukraine (z. B. in Mariupol) waren die russischen Soldaten vom Großteil der lokalen Bevölkerung als Befreier und Beschützer begrüßt worden. Das ist eine Garantie dafür, dass Neonazi-Terroristen sich in diesen Gebieten nicht wie Fische im Wasser in der Bevölkerung bewegen könnten, sondern sofort auffallen und gemeldet würden. Auch in den großen Weiten und eher menschenleeren und wenig bewaldeten Regionen der Zentralukraine hätte eine Neonazi-Terrorbewegung große Probleme, lange zu überleben.

Aber wie würde es aussehen, wenn die russische Armee ihre Operation zu Beginn des Winters am Ostufer des Dnjepr bis zum Frühling pausiert, die Selenskij-Regierung sich in Kiew eingeigelt hat und weiterhin ernsthafte Verhandlungen mit Russland ablehnt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde ein Kleinkrieg mit Nadelstichen über den Dnjepr hinweg geführt werden. Militärische Formationen aus Nazi-Bataillonen, aber auch aus nationalistischen Kreisen der stark gerupften regulären ukrainischen Armee, die nicht die russische Gefangenschaft vorgezogen und sich stattdessen auf das Westufer zur Fortsetzung des Kampfes abgesetzt haben, werden wahrscheinlich mit großzügiger Hilfe westlicher Geheimdienste versuchen, russische Flugzeuge abzuschießen, Schiffe auf dem Dnjepr zu versenken und mit Raketen und weitreichender Artillerie russische Ziele bis zu 300 Kilometer östlich des Dnjepr zu vernichten.

Überhaupt wäre die endgültige Beendigung der russischen Militäroperation am Westufer des Dnjepr keine optimale Lösung für Russland. Eine Rumpfukraine vom Dnjepr bis Lwow im Westen wäre stattdessen eher die Verwirklichung eines Traums der westlichen Kriegstreiber und ihrer Nazi-Schützlinge: Die Nazis würden zu Freiheitskämpfern erklärt, Russland könnte mit viel weniger westlichem Finanzaufwand weiter militärisch auf Trab gehalten und zur Ader gelassen werden, und politisch könnte man die Sache so drehen, dass Moskau in der Rumpfukraine sein zweites „Afghanistan“ erlebt.

Richtig gefährlich für Russland und den Rest der Welt aber könnte es werden, wenn Moskau im Frühling des nächsten Jahres seine militärische Spezialoperation in der Ukraine wiederaufnähme, sich den Weg nach „Banderistan“ freikämpfte und die Brutstätte des ukrainischen Faschismus unter Kriegsrecht und russische Besatzungsverwaltung stellte. Dann müssten die Neonazi-Terroristen nicht erst den Dnjepr überwinden, um ihre russischen Opfer zu finden. Zugleich könnten sie sich wie „Fische im Wasser“ bewegen. Leicht vorstellbar ist ein makabrer Wettbewerb, den sich konkurrierende Neonazi-Terrorgruppen liefern könnten, wer die meisten oder die schlimmsten Anschläge gegen russische Truppen, ihre zivilen Verwaltungsbehörden und ihre lokalen zivilen Helfer vorweisen kann.

Nach dem Bruch mit dem Westen wird Russland erst recht eine neue Weltordnung mitgestalten
Wenn in dieser Situation der Westen offiziell oder verdeckt über Geheimdienste die Terroristen mit Geld, Waffen, Terrorausbildung und Angriffsplänen unterstützt, erhöht sich laut Dr. Hahn die Gefahr eines direkten Zusammenstoßes zwischen Russland und der NATO stark. Leicht vorstellbar ist auch, dass ukrainische Neonazi-Terroristen z. B. bei ihren polnischen Freunden auf polnischem Territorium auf der anderen Seite der Grenze einen „sicheren Hafen“ bekämen, wo sie sich vom Kampf ausruhen und medizinisch behandeln lassen könnten, bevor sie für neue Angriffe gegen russische Ziele zurück in die Ukraine gingen.


Wenn nun Russland – in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht – solche Gruppen bis auf polnisches Territorium verfolgte oder einen „sicheren Hafen“ der Terroristen auf polnischem Boden vernichtete und dabei womöglich noch polnische Terrorhelfer tötete, dann wäre das zwar noch kein Fall für den NATO-Artikel 5, den NATO-Beistandsartikel, aber viele Kriegstreiber und ihre Freunde in den Medien würden alles tun, um mit einen solchen Vorfall vor der Öffentlichkeit den NATO-Eintritt in den Krieg gegen Russland zu fordern und zu rechtfertigen.

Dieses enorme Gefahrenpotenzial hat Dr. Hahn zwar nicht direkt, aber dennoch implizit angesprochen, als er in seinem Artikel zum Schluss daran erinnerte, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine nicht um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA bzw. der NATO und Russland handelt!

In diesem Krieg gebe es, so Dr. Hahn, „nur einen Stellvertreter, nämlich die Ukraine“. Die wird für die NATO ins Feuer geschickt, während Russland direkt und ohne Stellvertreter getroffen wird. Daher, unterstreicht Dr. Hahn, sei es jetzt

„für die westliche Diplomatie höchste Zeit, vor allem für die US-Politik in den höchsten Gang zu schalten und bereit zu sein, die notwendigen Kompromisse mit Moskau einzugehen, sonst wird die Ukraine höchstwahrscheinlich als unabhängiger Staat von der Weltbühne verschwinden, und ein größerer Russland-NATO-Krieg wird zu einer unmittelbaren Perspektive, ein Krieg, der nicht nur Europa und Russland, sondern auch die Welt mit einem nuklearen Flächenbrand bedroht“.

Die Dringlichkeit der Lage unterstreicht Dr. Hahn mit folgenden Worten:

„Jeder weitere Tag, an dem Washington sich weigert, einen Kanal zu Putin zu öffnen und Kiew zu Verhandlungen zu drängen, bedeutet mehr Tod und Zerstörung für beide Seiten, eine globale wirtschaftliche Katastrophe und das Risiko eines viel größeren Krieges.“

Letztlich muss aber auch Dr. Hahn einräumen, dass die Aussichten für ein Entgegenkommen des Westens für eine diplomatische Konfliktlösung „nicht gut sind“. Der Grund dafür sei, dass

„für den Westen die NATO-Erweiterung zu einem Muss geworden ist, und zwar auf der Ebene einer existenziellen Grundbedingung. Denn in den Köpfen der westlichen Führer hängt der Erhalt der Hegemonie des Westens vom Prestige der NATO und ihrer fortgesetzten Erweiterung ab, die getrieben wird von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessen verschiedener Staaten, vor allem der krisengeschüttelten und zerfallenden Vereinigten Staaten“.

Versuch einer Prognose: Wo wird die russische Armee in der Ukraine stoppen?
Aber auch der Kreml hat laut Dr. Hahn große Probleme, mit den USA bzw. den NATO-Staaten einen Verhandlungsfrieden auszuarbeiten. Denn den Russen fehle einfach „das Vertrauen in die Zusagen und in die hochheiligen Verpflichtungen“, die die USA feierlich eingehen, nur um sie bei passender Gelegenheit arrogant zu ignorieren.

Die jüngste Enthüllung des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, dass Kiew Minsk II nur deshalb unterzeichnet habe, um Zeit zu gewinnen für den acht Jahre dauernden Aufbau, Bewaffnung und Ausbildung des ukrainischen Militärs durch die NATO, um die Krim und den Donbass zurückzuerobern, habe „in Moskau nur den Sinn für die unehrenhaften und charakterlosen“ Politriegen der „westlichen Wertegemeinschaft“ geschärft. Laut Dr. Hahn „vertraut Moskau dem Westen weniger, als der Westen Moskau vertraut, und das sagt etwas aus“.

https://pressefreiheit.rtde.tech/meinung/143619-nur-schmutziges-abkommen-mit-moskau-koennte-ukraine-retten-teil-2
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Freitag, 15. Juli 2022

Alles Theater mit dem Feindbild Russland - NRhZ

 Entnommen: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28152

Aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 41, Juni 2022

Alles Theater mit dem Feindbild Russland

Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Russlands Eingreifen in der Ukraine: völkerrechtswidrig? Nein, denn: "Von der Regel des Gewaltverbots nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta gibt es die Ausnahme in Artikel 51: 'das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung'. Nach den Verträgen über Beistand und Freundschaft zwischen Russland und den Donbass-Republiken waren die Bedingungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung gemäß UN-Charta gegeben. Russland führt also keinen 'Angriffskrieg' und es hat auch keinen Krieg 'begonnen', denn es griff in einen schon acht Jahre dauernden Krieg ein..." So formuliert es in aller Klarheit der Deutsche Freidenker-Verband. (1) Der US-Friedensrat bekräftigt diese Sichtweise: "Auf der Grundlage von Artikel 51 hat die Russische Föderation ihr Recht auf Selbstverteidigung geltend gemacht und den Sicherheitsrat ordnungsgemäß informiert. Russland bringt wichtige Argumente für seine Anwendung von Gewalt nach Artikel 51 vor." (2) Zudem darf nicht übersehen werden, dass es die NATO ist, die seit Jahren aggressiv gegenüber Russland auftritt.

Doch diese Darlegung der Sachlage ist im "Westen" die Ausnahme. Ansonsten wird das Feindbild Russland geschürt. Aus dem Munde der NATO und ihrer Handlanger ist zu hören: "Wir fordern Russland auf, seinen militärischen Angriff unverzüglich einzustellen... und von dem eingeschlagenen Weg der Aggression abzulassen." (Erklärung der Staats- und Regierungschefs der NATO, 25. Februar 2022) (3) "Die NATO und die EU sind sich einig in der scharfen Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine." (NATO-Außenminister, 4. März 2022) (4) "Die EU verurteilt die Entscheidung Putins, die nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete von Donezk und Luhansk anzuerkennen, sowie die grundlose und ungerechtfertigte militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine aufs Schärfste." (Europäischer Rat, 23. Juni 2022) (5) "Am 24. Februar hat Russland völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen." (Auswärtiges Amt der BRD, 4. Juni 2022) (6)

Es wäre zu erwarten, dass sich Friedensbewegung und Linke gegen das Schüren des Feindbilds Russland wenden. Doch weitgehend Fehlanzeige! Erklärungen aus der so genannten Friedensbewegung bedienen dieses Feindbild im Stile der NATO. So heißt es z.B.: "Wir verurteilen die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine. Für Krieg gibt es keine Rechtfertigung." (Erklärung von Willi van Ooyen und Executive Director des International Peace Bureau Reiner Braun, 24. Februar 2022) (7) Oder: "Der Krieg tobt in Europa. Mit ihrem völkerrechtswidrigen Angriff hat die russische Führung unendliches Leid über die Menschen in der Ukraine... gebracht. Jeden Tag wird der Krieg brutaler und zerstörerischer." (Aufruf der Initiative "Abrüsten statt Aufrüsten" zu den Ostermärschen 2022, 15. April 2022, mit Willi van Ooyen und Reiner Braun als Unterzeichner) (8) Oder: "Der völkerrechtswidrige Angriff Putins auf die Ukraine ist der erste konventionelle Krieg, der unmittelbar unter dem Atomschirm Russlands stattfindet." (Reiner Braun und der Bundesvorsitzende der Naturfreunde Michael Müller am 26. April 2022 in der Frankfurter Rundschau) (9)

Dazu eine Zwischenbemerkung: die Initiative "Abrüsten statt Aufrüsten" mit den führenden Köpfen Willi van Ooyen und Reiner Braun wehrt sich mit aller Verbissenheit gegen die Forderung nach Austritt aus der NATO und Kündigung des Truppenstationierungsvertrags. (10) Und die Naturfreunde mit Michael Müller an der Spitze sind die Organisation, die auf üble Weise gegen die Grundrechtebewegung Stimmung macht – sie z.B. als "Sammelbecken Deutschnationaler, AfDler und Esoteriker" diffamiert (11) – und die Freidenker-Veranstaltung "Linker Liedersommer" im Juni 2022 mit perfiden Unterstellungen fast zu Fall gebracht hätte (12).

Doch Reiner Braun, Willi van Ooyen und Michael Müller befinden sich in "bester" Gesellschaft. Einige weitere Beispiele: "Am 24. Februar überfiel Russland unter Präsident Wladimir Putin die Ukraine... Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Putin trägt die volle Verantwortung für die Toten und die Menschen auf der Flucht. Putins Begründungen für den Krieg sind Lügen und Propaganda." (derAppell, März 2022) (13) "Der Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine und die Anerkennung von Donezk und Luhansk sind falsch, völkerrechtswidrig und brandgefährlich. Die militärische Aggression ist durch nichts zu rechtfertigen." (IMI-Mitarbeiterin Claudia Haydt, 24. Februar 2022) (14) "Man muss ganz klar sagen: das was da jetzt stattfindet, ist ein barbarischer, völkerrechtswidriger Krieg, für den es keinerlei Rechtfertigung, keine Entschuldigung gibt." (Sahra Wagenknecht, 25. Februar 2022) (15) "Russlands Invasion der Ukraine ist ein Akt der Aggression und eine Menschenrechtskatastrophe." (Amnesty Deutschland, 1. März 2022) (16) "Wir sind bestürzt über den Bruch des Völkerrechts und die russische Invasion in die Ukraine." (Ostermarsch-Aufruf 2022, Bremen) (17) "Der völkerrechtswidrige Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat den Krieg erneut nach Europa... zurückgebracht." Gemeinsamer Ostermarsch-Aufruf 2022 von "Kooperation für den Frieden" und "Bundesausschuss Friedensratschlag") (18) "Mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff hat Russland unendliches Leid über die Menschen in der Ukraine gebracht." (Aufruf des DGB zu den Ostermärschen 2022) (19) "Wir sind uns einig über die Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine. Die Entscheidung von Präsident Putin zu diesem Angriff ist durch nichts zu rechtfertigen." (Sören Pellmann, MdB DIE LINKE, beim Ostermarsch 2022) (20) "Unsere Forderungen sind eindeutig: Herr Putin, beenden Sie umgehend den Angriffskrieg auf die Ukraine! Beenden Sie den Bruch des Völkerrechts!" (Christian Wechselbaum, IG Bauen-Agrar-Umwelt, beim Ostermarsch 2022) (21) "Durch den brutalen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine sterben jeden Tag Menschen. Millionen Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, sind auf der Flucht. Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf die europäische Friedensordnung..." (Aufruf des DGB zum 1. Mai 2022) (22) "Gemeinsam verurteilen wir den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine." (IPPNW-Aufruf zur Kundgebung am 3. Juni 2022 in Berlin) (23)

Es ist wie schon so oft, z.B. 2011, als die NATO den eindeutig völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Libyen geführt hat. Allenthalben wurde das kriegslegitimierende Feindbild Gaddafi geschürt – flankiert von wesentlichen Teilen der Friedensbewegung und der Linken. Jan van Aken (Die Linke) am 18.3.2011 im Bundestag: "Natürlich ist es völlig richtig, das mörderische Treiben von Gaddafi zu stoppen; da sind wir uns hier alle einig." (24) In einer Erklärung des Aachener Friedenspreises vom 6.3.2011 heißt es: "Mit großer Sorge beobachten wir das brutale und mörderische Vorgehen des Gaddafi-Regimes gegen die eigene Bevölkerung. Wir verurteilen dieses Vorgehen entschieden." (24) Und bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) ist am 3.3.2011 zu lesen: "Mit einer ungeheuren Brutalität versuchen gegenwärtig die Truppen des Diktators Muammar al Gaddafi den Aufstand in Libyen niederzuschlagen... Muammar Gaddafi ist ein Verbrecher und er gehört vor Gericht – besser früher als später." (24) Damit stellt sich die Frage: was sind das für Steuerungsmechanismen, die Friedensbewegung und Linke hinsichtlich der Kernaussagen immer wieder auf NATO-Kurs bringen?


Veröffentlichung (in erweiterter Fassung) aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 41 (Juni 2022) – Grundsatzschrift über die Freiheit des Denkens – bissig – streitbar – schön und wahr und (manchmal) satirisch.



Mehr dazu und wie es sich bestellen lässt, hier: http://www.das-krokodil.com/


Donnerstag, 14. Juli 2022

Die NATO - das gefährlichste Militärbündnis der Welt - LZ

 Entnommen: https://linkezeitung.de/2022/07/14/die-nato-das-gefaehrlichste-militaerbuendnis-der-welt/


Die NATO – das gefährlichste Militärbündnis der Welt

VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 14. JULI 2022 


von Chris Hedges – https://consortiumnews.com   


Zu keinem Zeitpunkt, einschließlich der Kubakrise, standen wir näher am Abgrund eines Atomkriegs.

Die Nordatlantik-Vertragsorganisation (NATO) und die von ihr abhängige Rüstungsindustrie mit ihren Milliardengewinnen sind zum aggressivsten und gefährlichsten Militärbündnis der Welt geworden. Sie wurde 1949 gegründet, um die sowjetische Expansion in Ost- und Mitteleuropa zu vereiteln, und hat sich zu einer globalen Kriegsmaschine in Europa, dem Nahen Osten, Lateinamerika, Afrika und Asien entwickelt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die NATO ihre Präsenz ausgeweitet und gegen ihre Versprechen an Moskau verstoßen, indem sie 14 Staaten in Ost- und Mitteleuropa in das Bündnis aufgenommen hat. In Kürze wird sie auch Finnland und Schweden aufnehmen.

Sie hat Bosnien, Serbien und den Kosovo bombardiert. Sie hat Kriege in Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen angezettelt, die fast eine Million Menschen das Leben gekostet und etwa 38 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben haben.

Sie baut eine militärische Präsenz in Afrika und Asien auf. Sie hat Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea, die so genannten asiatisch-pazifischen Vier, zu ihrem jüngsten Gipfel Ende Juni in Madrid eingeladen. Sie hat ihren Aktionsradius auf die südliche Hemisphäre ausgedehnt und im Dezember 2021 ein Abkommen über eine militärische Ausbildungspartnerschaft mit Kolumbien unterzeichnet. Sie hat die Türkei unterstützt, die über das zweitgrößte Militär der NATO verfügt und illegal in Teile Syriens und des Irak eingedrungen ist und diese besetzt hat.

Von der Türkei unterstützte Milizen sind an der ethnischen Säuberung der syrischen Kurden und anderer Bewohner Nord- und Ostsyriens beteiligt. Dem türkischen Militär werden Kriegsverbrechen im Nordirak vorgeworfen, darunter mehrere Luftangriffe auf ein Flüchtlingslager und der Einsatz von Chemiewaffen. Als Gegenleistung für die Erlaubnis von Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass Finnland und Schweden der Allianz beitreten, haben die beiden nordischen Länder zugestimmt, ihre innerstaatlichen Terrorgesetze zu erweitern, was es leichter macht, gegen kurdische und andere Aktivisten vorzugehen, ihre Beschränkungen für Waffenverkäufe an die Türkei aufzuheben und der von Kurden angeführten Bewegung für demokratische Autonomie in Syrien die Unterstützung zu verweigern.

Das ist eine beachtliche Bilanz für ein Militärbündnis, das mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion obsolet geworden ist und eigentlich hätte aufgelöst werden müssen. Die NATO und die Militaristen hatten nicht die Absicht, sich die „Friedensdividende“ zu eigen zu machen und eine Welt zu fördern, die auf Diplomatie, der Achtung von Einflusssphären und gegenseitiger Zusammenarbeit beruht. Sie waren entschlossen, im Geschäft zu bleiben. Ihr Geschäft ist der Krieg. Das bedeutete, dass sie ihre Kriegsmaschinerie weit über die Grenzen Europas hinaus ausdehnte und sich in einen unablässigen Kriegszustand mit China und Russland begab.

Die NATO sieht die Zukunft, wie in ihrem Dokument „NATO 2030: Vereint für eine neue Ära“ dargelegt, als einen Kampf um die Vorherrschaft mit rivalisierenden Staaten, insbesondere mit China, und ruft zur Vorbereitung eines langwierigen globalen Konflikts auf.

„China verfolgt eine zunehmend globale strategische Agenda, die durch seine wirtschaftliche und militärische Stärke unterstützt wird“, heißt es in der NATO-Initiative 2030.

„Es hat bewiesen, dass es gewillt ist, Gewalt gegen seine Nachbarn anzuwenden, sowie wirtschaftlichen Zwang und einschüchternde Diplomatie weit über die indopazifische Region hinaus. In den kommenden zehn Jahren wird China wahrscheinlich auch die Fähigkeit der NATO in Frage stellen, eine kollektive Widerstandsfähigkeit aufzubauen, wichtige Infrastrukturen zu schützen, sich mit neuen und aufkommenden Technologien wie 5G zu befassen und sensible Wirtschaftssektoren einschließlich der Lieferketten zu schützen. Längerfristig ist es immer wahrscheinlicher, dass China seine militärische Macht auf die ganze Welt ausdehnt, möglicherweise auch auf den euro-atlantischen Raum.“

Abkehr von der Strategie des Kalten Krieges

Das Bündnis hat sich von der Strategie des Kalten Krieges verabschiedet, die dafür sorgte, dass Washington näher an Moskau und Peking dran war als Moskau und Peking aneinander. Die Feindschaft der USA und der NATO hat Russland und China zu engen Verbündeten gemacht.

Russland, das reich an natürlichen Ressourcen wie Energie, Mineralien und Getreide ist, und China, ein Produktions- und Technologiegigant, bilden eine starke Kombination. Die NATO macht keinen Unterschied mehr zwischen den beiden und verkündet in ihrer jüngsten Grundsatzerklärung, dass die „sich vertiefende strategische Partnerschaft“ zwischen Russland und China zu „sich gegenseitig verstärkenden Versuchen geführt hat, die auf Regeln basierende internationale Ordnung zu untergraben, die unseren Werten und Interessen zuwiderlaufen“.

Am 6. Juli gaben Christopher Wray, Direktor des FBI, und Ken McCallum, Generaldirektor des britischen MI5, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in London bekannt, dass China die „größte langfristige Bedrohung für unsere wirtschaftliche und nationale Sicherheit“ sei. Sie beschuldigten China ebenso wie Russland, sich in die Wahlen in den USA und in Großbritannien einzumischen. Wray warnte die Wirtschaftsführer, vor denen sie sprachen, dass die chinesische Regierung darauf aus sei, „Ihre Technologie zu stehlen, was auch immer Ihre Branche ausmacht, und sie zu benutzen, um Ihr Unternehmen zu unterbieten und Ihren Markt zu dominieren“.

Diese hetzerische Rhetorik ist ein Vorbote einer unheilvollen Zukunft.

Man kann nicht über Krieg reden, ohne über Märkte zu sprechen. Der politische und soziale Aufruhr in den USA und ihre schwindende Wirtschaftskraft haben dazu geführt, dass sie die NATO und ihre Kriegsmaschinerie als Mittel gegen ihren Niedergang betrachten.

Washington und seine europäischen Verbündeten fürchten sich vor Chinas Billionen-Dollar-Initiative „Belt and Road“ (Gürtel und Straße), mit der ein Wirtschaftsblock von etwa 70 Ländern außerhalb der Kontrolle der USA verbunden werden soll.

Die Initiative umfasst den Bau von Eisenbahnlinien, Straßen und Gaspipelines, die mit Russland verbunden werden sollen. Es wird erwartet, dass Peking bis 2027 1,3 Billionen Dollar in die BRI investieren wird. China, das auf dem besten Weg ist, innerhalb eines Jahrzehnts zur größten Volkswirtschaft der Welt aufzusteigen, hat die Regionale Integrale Wirtschaftspartnerschaft ins Leben gerufen, den weltweit größten Handelspakt von 15 ostasiatischen und pazifischen Ländern, die 30 Prozent des Welthandels repräsentieren. Auf China entfallen bereits 28,7 Prozent der weltweiten Produktionsleistung, fast doppelt so viel wie auf die USA mit 16,8 Prozent.

Chinas Wachstumsrate lag im vergangenen Jahr bei beeindruckenden 8,1 Prozent, verlangsamt sich jedoch in diesem Jahr auf etwa 5 Prozent.  Im Gegensatz dazu lag die Wachstumsrate der USA im Jahr 2021 bei 5,7 % – dem höchsten Wert seit 1984 -, wird aber nach Prognosen der New Yorker Federal Reserve in diesem Jahr unter 1 % fallen.

Wenn sich China, Russland, der Iran, Indien und andere Länder von der Tyrannei des US-Dollars als Weltreservewährung und der internationalen Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication (SWIFT), einem Nachrichtennetzwerk, das Finanzinstitute zum Senden und Empfangen von Informationen wie Geldüberweisungsanweisungen nutzen, befreien, wird dies einen dramatischen Wertverfall des Dollars und einen finanziellen Zusammenbruch in den USA auslösen.

Die enormen Militärausgaben, die die US-Schulden auf 30 Billionen Dollar getrieben haben, 6 Billionen Dollar mehr als das gesamte BIP der USA, werden untragbar werden. Die Bedienung dieser Schulden kostet 300 Milliarden Dollar pro Jahr. Die USA gaben im Jahr 2021 mehr für das Militär aus, nämlich 801 Milliarden Dollar, was 38 Prozent der gesamten weltweiten Militärausgaben entspricht, als die nächsten neun Länder, einschließlich China und Russland, zusammen.

Der Verlust des Dollars als Weltreservewährung wird die USA dazu zwingen, ihre Ausgaben zu kürzen, viele ihrer 800 Militärstützpunkte im Ausland zu schließen und mit den unvermeidlichen sozialen und politischen Umwälzungen fertig zu werden, die durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch ausgelöst werden. Es ist eine bittere Ironie, dass die NATO diese Möglichkeit noch beschleunigt hat.

In den Augen der NATO und der amerikanischen Strategen ist Russland die Vorspeise. Die NATO hofft, dass sich sein Militär in der Ukraine festfährt und geschwächt wird. Sanktionen und diplomatische Isolierung, so der Plan, werden Wladimir Putin von der Macht verdrängen. In Moskau wird ein Klientelregime installiert, das den Wünschen der USA nachkommt.

Die NATO hat der Ukraine mehr als 8 Milliarden Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt, während die USA dem Land fast 54 Milliarden Dollar an militärischer und humanitärer Hilfe zugesagt haben.

China ist jedoch das Hauptgericht. Da die USA und die NATO nicht in der Lage sind, wirtschaftlich zu konkurrieren, haben sie zu dem stumpfen Instrument des Krieges gegriffen, um ihren globalen Konkurrenten lahm zu legen.

Provokation Chinas

Die Provokation Chinas ist eine Wiederholung der NATO-Hetze gegen Russland.

Die NATO-Erweiterung und der von den USA unterstützte Putsch in Kiew im Jahr 2014 veranlassten Russland dazu, zunächst die Krim in der Ostukraine mit ihrem hohen Anteil an russischstämmiger Bevölkerung zu besetzen und dann [im Februar] in die gesamte Ukraine einzumarschieren, um die Bemühungen des Landes um einen NATO-Beitritt zu vereiteln.

Derselbe Totentanz wird mit China um Taiwan, das China als Teil des chinesischen Hoheitsgebiets betrachtet, und mit der NATO-Expansion im asiatisch-pazifischen Raum gespielt. China fliegt Kampfflugzeuge in Taiwans Luftverteidigungszone, und die USA schicken Marineschiffe durch die Taiwanstraße, die das Süd- und das Ostchinesische Meer miteinander verbindet.

Außenminister Antony Blinken bezeichnete China im Mai als die größte langfristige Herausforderung für die internationale Ordnung und verwies dabei auf seine Ansprüche auf Taiwan und seine Bestrebungen, das Südchinesische Meer zu beherrschen. Taiwans Präsidentin posierte kürzlich in einem Zelensky-ähnlichen Werbegag mit einem Panzerabwehrraketenwerfer auf einem von der Regierung verbreiteten Foto.

Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen hält heute Morgen einen lokal hergestellten Raketenwerfer in der Hand. Quelle: https://t.co/Ly18NmZJfN pic.twitter.com/nnYE6Vtvcd – Rik Glauert (@RikGlauert) June 2, 2022

Der Konflikt in der Ukraine war ein Glücksfall für die Rüstungsindustrie, die nach dem demütigenden Abzug aus Afghanistan einen neuen Konflikt brauchte. Die Aktienkurse von Lockheed Martin sind um 12 Prozent gestiegen. Northrop Grumman ist um 20 Prozent gestiegen. Der Krieg wird von der NATO genutzt, um ihre militärische Präsenz in Ost- und Mitteleuropa zu erhöhen. Die USA errichten eine ständige Militärbasis in Polen. Die 40.000 Mann starke NATO-Reaktionstruppe wird auf 300.000 Mann aufgestockt. Waffen im Wert von Milliarden von Dollar werden in die Region gepumpt.

Der Konflikt mit Russland schlägt jedoch bereits fehl. Der Rubel ist gegenüber dem Dollar auf ein Siebenjahreshoch gestiegen. Europa steuert aufgrund der steigenden Öl- und Gaspreise und der Befürchtung, dass Russland die Lieferungen vollständig einstellen könnte, auf eine Rezession zu. Der Verlust von russischem Weizen, Dünger, Gas und Öl aufgrund der westlichen Sanktionen führt zu einem Chaos auf den Weltmärkten und einer humanitären Krise in Afrika und dem Nahen Osten. Steigende Lebensmittel- und Energiepreise, Knappheit und lähmende Inflation bringen nicht nur Entbehrungen und Hunger mit sich, sondern auch soziale Unruhen und politische Instabilität. Der Klimanotstand, die eigentliche existenzielle Bedrohung, wird ignoriert, um die Götter des Krieges zu besänftigen.

Bedrohung durch einen Nuklearkrieg

Die Kriegsmacher gehen beängstigend unbekümmert mit der Gefahr eines Atomkriegs um. Putin warnte die NATO-Länder, dass sie „mit größeren Konsequenzen rechnen müssen als je zuvor in der Geschichte“, sollten sie direkt in der Ukraine intervenieren, und ordnete an, die russischen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen.

Die Nähe der in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationierten US-Atomwaffen zu Russland bedeutet, dass ein nuklearer Konflikt einen Großteil Europas auslöschen würde. Nach Angaben der Federation of American Scientists kontrollieren Russland und die Vereinigten Staaten etwa 90 Prozent der weltweiten Atomsprengköpfe und verfügen über jeweils rund 4.000 Sprengköpfe in ihren Militärlagern.

US-Präsident Joe Biden warnte, dass der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine „völlig inakzeptabel“ wäre und „schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen“ würde, ohne jedoch zu sagen, welche Konsequenzen das sein würden. Dies bezeichnen US-Strategen als „bewusste Zweideutigkeit“.

Nach den Fiaskos im Nahen Osten hat das US-Militär seinen Schwerpunkt von der Bekämpfung des Terrorismus und der asymmetrischen Kriegsführung auf die Konfrontation mit China und Russland verlagert. Das nationale Sicherheitsteam von Präsident Barack Obama führte 2016 ein Kriegsspiel durch, bei dem Russland in ein NATO-Land im Baltikum einmarschierte und eine taktische Atomwaffe mit geringer Sprengkraft gegen NATO-Streitkräfte einsetzte. Die Obama-Beamten waren sich uneins, wie sie darauf reagieren sollten.

„Das sogenannte Principals Committee des Nationalen Sicherheitsrats – darunter Kabinettsmitglieder und Mitglieder der Generalstabschefs – entschied, dass die Vereinigten Staaten keine andere Wahl hätten, als mit Atomwaffen zurückzuschlagen“, schreibt Eric Schlosser in The Atlantic.

„Jede andere Art der Reaktion, so argumentierte der Ausschuss, würde einen Mangel an Entschlossenheit zeigen, die amerikanische Glaubwürdigkeit beschädigen und das NATO-Bündnis schwächen. Die Wahl eines geeigneten nuklearen Ziels erwies sich jedoch als schwierig. Ein Angriff auf die russische Invasionsmacht würde unschuldige Zivilisten in einem NATO-Land töten. Ein Angriff auf Ziele innerhalb Russlands könnte den Konflikt zu einem totalen Atomkrieg eskalieren lassen. Schließlich empfahl der Hauptausschuss des Nationalen Sicherheitsrats einen Atomangriff auf Weißrussland – ein Land, das keinerlei Rolle bei der Invasion des NATO-Verbündeten gespielt hatte, aber das Pech hatte, ein russischer Verbündeter zu sein.

Laut der New York Times hat die Regierung Biden ein Tiger-Team aus nationalen Sicherheitsbeamten gebildet, das Kriegsspiele zu dem Thema durchführt, was zu tun ist, wenn Russland eine Atomwaffe einsetzt. Die Gefahr eines Atomkriegs wird mit Diskussionen über „taktische Atomwaffen“ heruntergespielt, als ob weniger starke Nuklearexplosionen irgendwie akzeptabler wären und nicht zum Einsatz größerer Bomben führen würden.

Zu keinem Zeitpunkt, auch nicht während der Kubakrise, standen wir näher am Abgrund eines Atomkriegs.

„Eine von Experten der Princeton University entwickelte Simulation beginnt damit, dass Moskau einen nuklearen Warnschuss abgibt; die NATO antwortet mit einem kleinen Schlag, und der darauf folgende Krieg fordert in den ersten Stunden mehr als 90 Millionen Opfer“, berichtet die New York Times.

Je länger der Krieg in der Ukraine andauert – und die USA und die NATO scheinen entschlossen zu sein, über Monate, wenn nicht gar Jahre, Milliarden von Dollar an Waffen in den Konflikt zu stecken – desto mehr wird das Undenkbare denkbar. Mit dem Armageddon zu liebäugeln, um der Rüstungsindustrie Profit zu verschaffen und das vergebliche Streben nach der Wiedererlangung der globalen Hegemonie der USA zu erfüllen, ist im besten Fall extrem rücksichtslos und im schlimmsten Fall völkermörderisch.

Chris Hedges: NATO — Most Dangerous Military Alliance on Planet



https://cooptv.wordpress.com/2022/07/12/die-nato-das-gefahrlichste-militarbundnis-der-welt-von-chris-hedges-consortium-news/


Mittwoch, 13. Juli 2022

WELTMACHTZIELE - Oscar Lafontaine

 Volltreffer


https://www.facebook.com/oskarlafontaine/posts/pfbid02RGhJNZtRZcyRCgBt6h4Q8yN3N7caS7rJozPGiLU7NRuiD8ujAFvc4t8jyN5CEgZkl   


Ein Zitat von Oscar Lafontaine

„Deutsche Politiker wollen nicht begreifen, obwohl es US-Strategen immer wieder sagen, dass die US-Politik seit 100 Jahren das Ziel hat, das Zusammengehen von deutscher Technik und russischen Rohstoffen zu verhindern. Es ist logisch: Das erklärte Ziel, die einzige Weltmacht zu bleiben, verlangt, dass man nicht nur die chinesische oder russische, sondern auch die deutsche und europäische Wirtschaft schwächt, damit keine Konkurrenz zu stark wird. Damit das funktioniert, braucht man Politiker, die dumm genug sind, diese Strategie nicht zu durchschauen und zu unfreiwilligen Helfern dieser Politik werden. In dieser Hinsicht sind die USA ungemein erfolgreich. Um im Wettbewerb stark zu sein, braucht die Industrie billige Energie. Der US-Politik ist es gelungen, dass die deutsche und europäische Wirtschaft in ihrer Wettbewerbsfähigkeit erheblich geschwächt wird. Mittlerweile zahlt die Industrie bei uns für Gas im Vergleich zur US-Wirtschaft einen viel höheren Preis.“ (siehe die Bloomberg-Übersicht hier: https://www.nachdenkseiten.de/?p=85582  ). 



Dienstag, 12. Juli 2022

Keiner soll hungern ohne zu frieren - Der Weg in die Katastrophe - Wolfgang Bittner

 

Keiner soll hungern ohne zu frieren

Der Weg in die Katastrophe

Von Wolfgang Bittner

Am 6. Juli 2022 wiederholte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf der Münchner Handwerksmesse das, was er schon mehrmals gesagte hat: „Es kommen noch enorme Preiserhöhungen auf uns zu.“ Der Herbst werde teuer, und auf etwa 50 Prozent der Bevölkerung komme eine Situation zu, „in der sie weniger verdienen als sie ausgeben“.(1) Für die deutsche Wirtschaft bedeute der steile Anstieg der Energiepreise das dreifache Risiko von Kaufkraftverlust, drohender Kreditklemme und Investitionsschwäche. In den Unternehmen gebe es eine wachsende Investitionszurückhaltung, und bei den Banken eine wachsende Zurückhaltung, Kredite zu vergeben.(2)


Schon Ende Juni hatte Habeck erklärt, als sei das selbstverständlich und sozusagen gottgewollt: „Es kann wirklich problematisch werden“, er rechne mit dem Schlimmsten. (3) Es drohe "eine Blockade von Nord Stream 1 insgesamt", und damit sei ein vollständiges Ausbleiben russischer Gaslieferungen durch die Ostseepipeline zu befürchten.(4) Deswegen, so Habeck, könne es „wirklich problematisch werden“.

Die Bevölkerung wird demensprechend ohne jegliche Skrupel aufgefordert, weniger Gas zu verbrauchen, am Strom zu sparen, weniger zu duschen und so weiter. Einige Vermieter gehen bereits dazu über, Warmwasser zu rationieren. Wie schon in der Corona-Pandemie, werden die Menschen in einem permanenten Alarmmodus gehalten, der sie im Sinne einer mehr und mehr verfehlten, existenzbedrohenden Politik beeinflussbar macht.

Oskar Lafontaine hielt Habeck kurz und knapp entgegen: „Wenn man an die eigene Bevölkerung denkt, gibt es nur eine Lösung: Öffnet Nord Stream 2, um das Schlimmste zu verhindern.“(5) Und er fuhr fort: „Es war doch wirklich peinlich, mit anzusehen, wie Biden auf der Pressekonferenz mit Scholz in Washington diesem überdeutlich machte, wer bestimmt, ob die Ostseepipeline Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird oder nicht. Wann wird es einen Bundeskanzler geben, der den Mut hat, Washington zu sagen, bis hierhin und nicht weiter.“

Zum Ukraine-Krieg berief sich Lafontaine auf den renommierten US-Ökonom Jeffrey Sachs, den er zitierte: „Der Krieg in der Ukraine ist der Höhepunkt eines 30-jährigen Projekts der amerikanischen neokonservativen Bewegung (Neocons). In der Regierung Biden sitzen dieselben Neokonservativen, die sich für die Kriege der USA in Serbien (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003), Syrien (2011) und Libyen (2011) starkgemacht und die den Einmarsch Russlands in die Ukraine erst provoziert haben.“(6)


Papst Franziskus zum Ukraine-Krieg

In diesem Zusammenhang ist eine Stellungnahme des Papstes erhellend. In einem Interview zur Ukraine sagte Franziskus, der ja wohl als unvoreingenommen gelten kann, am 19. Mai 2022, man müsse sich vom Schema des „Rotkäppchens“ lösen: „Rotkäppchen war gut, und der Wolf war der Bösewicht. Hier gibt es keine metaphysisch Guten und Bösen auf abstrakte Art und Weise.“ Der Papst wies darauf hin, dass „wir nur das sehen, was ungeheuerlich ist, und nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert wurde.“ Er fügte hinzu: „Und ich registriere das Interesse am Testen und Verkaufen von Waffen.“(7)

Franziskus stellte klar: „Manch einer mag mir an dieser Stelle sagen: Aber Sie sind doch pro Putin! Nein, das bin ich nicht. So etwas zu sagen, wäre vereinfachend und falsch. Ich bin einfach dagegen, die Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind.“(8)

Auch wenn der Krieg in der Ukraine natürlich nicht gutzuheißen ist, wäre es sinnvoll und wichtig zur Aufklärung der Hintergründe, über die Ursachen dieses Konfliktes und über die Situation in der Ukraine vor dem Krieg Bescheid zu wissen. Aber das ins Gespräch zu bringen, kann inzwischen existenzgefährdend sein. Ob der Papst demnächst auf Anordnung aus Washington sanktioniert wird, bleibt abzuwarten.



Nord Stream 2 anschließen!

Nach Monaten vorsichtiger Zurückhaltung wagen es endlich mehr Politiker, die Öffnung von Nord Stream 2 zu fordern. So twitterte Sahra Wagenknecht am 5. Juli 2022: „Ampel hat Folgen nicht im Griff: Nach Prognos-Studie droht bei GasStopp BIP-Einbruch um 12 Prozent & Verlust von 5,6 Mill. Arbeitsplätzen. Wirtschaftskrieg ruiniert uns, nicht Russland! Sanktionen aufheben, zur Not Gas über Nord Stream II beziehen!“(9)

Die Forderung nach einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ist nicht neu, ebenso wenig die Verhinderung des Projekts durch die USA. Jahrelang hatte die Regierung Trump dagegen opponiert und sogar weitgehende völkerrechtswidrige Sanktionen verhängt,(10) aber Angela Merkel und auch Olaf Scholz – bis zu seinem Antrittsbesuch in Washington – hatten die zweite Ostseepipeline nicht als politisches, sondern als durchsetzbares ökonomisches Projekt angesehen. Dann hatte US-Präsident Joseph Biden anlässlich der Unterredung mit dem Bundeskanzler die Inbetriebnahme sozusagen verboten.

Nun konnte Deutschland seinen Gasbedarf bis zur Verschärfung der Sanktionen gegen Russland relativ problemlos über Nord Stream 1 und die ukrainische Pipeline decken. Warum also die Aufregung um Nord Stream 2? Wäre es nicht logisch und sinnvoll, darauf hinzuwirken, dass Russland vertragsgemäß weiter Gas in vollem Umfang über Nord Stream 1 liefert? Doch das ist ein Trugschluss. Russland besteht nach wie vor auf Vertragserfüllung, es sieht in der Vertragsverletzung einen feindlichen Akt und hat die Möglichkeit, weitere Gaslieferungen zu verweigern, was zur Katastrophe führen würde.

Hinzu kommt, dass Nord Stream 2 mit großem finanziellem und technischem Aufwand gebaut wurde und betriebsbereit ist. Diese Pipeline sollte die Energiesicherheit für Deutschland und Westeuropa verhältnismäßig kostengünstig für die nächsten Jahrzehnte sicherstellen – so war es geplant. Werden diese Planungen weiter unterlaufen, entstehen milliardenschwere Schäden auf Kosten der beteiligten europäischen Unternehmen und der Steuerzahler.

Es ist der normale, günstigste Weg, Gas über Pipelines zur Verfügung zu stellen, weil alles andere übermäßig teuer, unökonomisch und unökologisch ist. Im Übrigen sind die Tankschiffe und Terminals noch im Bau, was länger dauern wird, und zudem besteht die Gefahr, sich hinsichtlich der Energieversorgung auf Gedeih und Verderb den USA sowie anderen unsicheren Lieferanten auszuliefern.


Nutzlose Sanktionen zu Lasten der Bevölkerung

Die Forderung, mit einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 einer absehbaren Katastrophe gegenzusteuern, kam nicht allein von Seiten der Linken. Für den AfD-Abgeordneten Steffen Kotré, der in einer beachtenswerten Rede vor dem Deutschen Bundestag die Sanktionen gegen Russland als "nutzlos" bezeichnete, ist die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 dringend geboten. Woraufhin Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Weise auf Kotré reagierte, die wohl mit dem alten Sprichwort „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“ am besten kommentiert ist. Er scheute sich nicht zu sagen: “Ich halte fest: Die AfD ist nicht nur eine rechtspopulistische Partei, sondern auch die Partei Russlands.“(11)

Der Herausgeber der NachDenkSeiten, Albrecht Müller, gab die drastische, aber passende Antwort: „Diese Einlassung ist so dumm, so geschichtsvergessen, so leichtfertig, dass man nur das Gesicht verhüllen kann angesichts der Tatsache, dass diese Person an der Spitze unserer Regierung steht.“ Der Vorwurf an eine andere Partei, die Partei Russlands zu sein, sei deshalb verwunderlich, weil sie aus dem Mund eines Politikers komme, „dessen Politik ganz wesentlich von den USA bestimmt wird. Die Sanktionen, die Beendigung der Entspannungspolitik, Aufrüstung, Waffenlieferungen – dies alles entspricht nicht der ursprünglichen Programmatik der Partei des Bundeskanzlers Scholz…“(12)

Am 6. Juli meldete sich auch der Linken-Energieexperte Klaus Ernst zu Wort. Er forderte die Aufhebung der Sanktionen sowie Gespräche über die Energieversorgung mit Russland – und erntete damit vehementen Widerspruch sogar in der eigenen Partei. Ernst hatte dem Welt-Nachrichtensender am 6. Juli 2022 in einem Interview gesagt, es sei angesichts der in Deutschland stark steigenden Preise „unmoralisch“, die Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten. Die Bundesregierung müsse „jetzt alles dafür, tun die Energieversorgung sicherzustellen… Dazu muss man, trotz des völkerrechtswidrigen Krieges, mit Russland reden. Gegebenenfalls auch darüber, Nord Stream 2 befristet in Betrieb zu nehmen, wenn die Gasversorgung nicht anders zu gewährleisten ist.“(13)

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sah sich veranlasst, das zu kritisieren. Der Vorschlag Ernsts sei „scheinbar populär, aber leider weltfremd“. Solange es „diesen furchtbaren Krieg in der Ukraine“ gebe, sei die Forderung nach einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 verfehlt.(14) Das entspricht der Partei-Linie, von der Ernst abgewichen ist, weswegen er – ebenso wie Sahra Wagenknecht – unverzüglich gemaßregelt wurde. Wen wundert es, dass die Partei DIE LINKE immer mehr Wähler verliert.

Auf Seiten der Befürworter und Durchsetzer des von den USA vorgegebenen beinharten Kurses gegen Russland zu Lasten der deutschen Bevölkerung finden sich US-affine Politiker und Politikerinnen, die Vaterlandsliebe „stets zum Kotzen“ finden (Robert Habeck), Russland im Einvernehmen mit Joseph Biden ruinieren wollen (Annalena Baerbock) oder eine im Bundestag vertretene Partei als fünfte Kolonne Russlands ansehen (Olaf Scholz).

Vielleicht ist es angebracht, derart ideologisch verrannte Fanatiker – obwohl sie Argumenten kaum noch zugänglich sind – auf einen Slogan der Nazi-Winterhilfe von 1943 hinzuweisen, der da hieß: „Keiner soll hungern und frieren“. Heute müsste es in Erinnerung an eine Verballhornung dieses Spruchs heißen: „Keiner soll hungern ohne zu frieren.“

Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Von ihm erschienen 2014 „Die Eroberung Europas durch die USA“, 2019 „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ sowie „Der neue West-Ost-Konflikt“ und 2021 „Deutschland – verraten und verkauft. Hintergründe und Analysen.


Quellen

(1) Bundeswirtschaftsminister Habeck: „Es kommen noch enorme Preiserhöhungen auf uns zu“ - WELT

(2) Ebd.

(3) www.sueddeutsche.de/wirtschaft/robert-habeck-energiepolitik-1.5612658

(4) Robert Habeck befürchtet Blockade von Nord Stream und warnt vor problematischem Winter | WEB.DE

(5) Oskar Lafontaine: Öffnet Nord Stream 2! (nachdenkseiten.de)

(6) Ebd.

(7) Papst Franziskus im Gespräch mit den europäischen Kulturzeitschriften der Jesuiten (herder.de)

(8) Ebd.

(9) https://mobile.twitter.com/SWagenknecht/status/1544311531000791049

(10) Dazu Wolfgang Bittner, „Deutschland – verraten und verkauft“, zeitgeist Verlag 2021, S. 117-123

(11) Bundeskanzler Scholz bezeichnet die AfD als "Partei Russlands" — RT DE

(12) Dumm. Blöder. Scholz (nachdenkseiten.de)

(13) PROFITEUR PUTIN: Energieversorgung – Schaden die Sanktionen nur Deutschland? | WELT Interview - YouTube

(14) Linken-Fraktionschef Bartsch gegen Inbetriebnahme von Nord Stream 2 | MDR.DE


Erstveröffentlichung: https://www.nachdenkseiten.de/?p=85733



Sonntag, 10. Juli 2022

Kanzler Scholz, der Marshall-Plan und die neue NATO-Strategie - NRhZ

 

Entnommen: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28169


Ein Rückblick bis ins Jahr 1945


Kanzler Scholz, der Marshall-Plan und die neue NATO-Strategie


Von Wolfgang Effenberger


Am 22. Juni 2022 im Bundestag (1) und sechs Tage später in seiner Abschlussrede auf dem Ende des G7-Gipfels in Elmau forderte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fast gebetsmühlenartig einen Marshallplan für die die Ukraine. (2) Gemeinsam mit der EU solle eine entsprechende internationale Konferenz mit Experten und Wissenschaftlerinnen organisiert und ein umfassendes Konzept zum Wiederaufbau entwickelt werden. Damit erweckt Scholz den Eindruck, dass der vormalige Marshallplan ein karitatives Unternehmen gewesen sei. Olaf Scholz ist Jahrgang 1958 und könnte sich noch an ähnliche Bilder aus seiner Kindheit erinnern. Zumindest aber an entsprechende werbewirksame Darstellungen in den Schulbüchern.

Was wollten die USA 1947 mit dem European-Rescue-Program (ERP) bezwecken?

Am 5. Juni 1947 hielt der ehemalige Generalstabschef der USA (seit 1. September 1939) (!) und nunmehrige Außenminister George Marshall an der Harvard Universität vor Veteranen (3) des 2. Weltkriegs eine weltweit Aufsehen erregende Abschlussrede, die die Welt verändern sollte. In dieser 12-minütigen Rede betonte Marshall, der in seiner militärischen Laufbahn überwiegend mit Kriegsplanungen beschäftigt war, dass der Krieg angesichts der sowjetischen Aggression nicht wirklich vorbei sei und dass das bedrohte Europa "erhebliche zusätzliche Hilfe erhalten muss, sonst droht ihm der wirtschaftliche, soziale und politische Verfall". (4)

Der Handschlag von Torgau an der Elbe war schnell vergessen, und die gerade noch verbündete Sowjetunion wurde zum Reich des Bösen erklärt – der sich anbahnende Kalte Krieg warf die ersten Schatten voraus. (5)

Dass die Sowjetunion die Masse ihrer 12 Millionen Soldaten weiter unter Waffen hielt, während die USA das Gros ihrer 11,5 Millionen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg sofort in die Heimat zurückschickten, war für die US-Falken ein willkommener Anlass, ihr böse Absichten zu unterstellen. Allerdings war in den USA die Industrie nicht zerstört, vielmehr boomte sie auf hohem Niveau, und man brauchte die Arbeitskräfte. Ganz anders in der Sowjetunion: Dort hatte der Krieg große Landstriche verheert und die Industrie bis zum Ural schwer in Mitleidenschaft gezogen. Daher fehlten flächendeckend Unterbringungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze, sowohl für die Soldaten als auch für die Bevölkerung.

Marshall, der Präsident Delano Roosevelt während des zweiten Weltkriegs in demutsvoller Ergebenheit gedient hatte, handelte nicht eigenständig und schon gar nicht als Altruist. Er war zeitlebens Soldat, der nur eine Aufgabe sah: Amerika zu dienen.

So steht Marshalls Rede in direktem Zusammenhang mit der Erklärung von Präsident Harry S. Truman, der am 12. März 1947 vor beiden Häusern des Kongresses verkündet hatte: „Wir können keine Veränderungen des Status quo erlauben, die durch Zwangsmethoden oder Tricks wie die politische Infiltration unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen erfolgen. Wenn sie freien und unabhängigen Nationen helfen, ihre Freiheit zu bewahren, verwirklichen die Vereinigten Staaten die Prinzipien der Vereinten Nationen. Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden in der Welt und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.“ (6)

Bereits im Oktober 1945 hatte Truman General Eisenhower beauftragt, einen hypothetischen Plan für einen umfassenden Krieg gegen die Sowjetunion auszuarbeiten. Mit der "Operation Totality" sollten mit einem Schlag 20 wichtige Städte (Moskau, Leningrad, Swerdlowsk, Tiflis….) ausradiert werden. (7)

Mit der so genannten "Truman-Doktrin" war nun offiziell Moskau der Fehdehandschuh zugeworfen worden. Im März 1947 übernahmen die USA auch die ehemals britische Schutzmachtrolle über Griechenland und die Türkei, um einer „sowjetischen Machtausweitung entgegenzuwirken“, so die offizielle Darstellung. (8) Hier wurde wohl die geopolitische Absicht kaschiert, die Handlungshoheit über die Dardanellen auszuüben.

Die Hauptziele des Marshallplans, eines bedeutenden Instruments bei der praktischen Ausgestaltung der Truman-Doktrin, waren, den beherrschenden Einfluss der USA in den vom Krieg zerstörten westeuropäischen Staaten zu sichern, den Aufschwung der in vielen Ländern beträchtlich gewachsenen revolutionären Bewegung zu verhindern, und natürlich die damaligen Volksdemokratien Osteuropas von der UdSSR abzutrennen bzw. auf den kapitalistischen Entwicklungsweg zurückzuführen. Es ging unter anderem darum, die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Eliten, der großen Unternehmen, in ganz Europa aufrechtzuerhalten. (9) Vor allem galt es, Westeuropa als einen verlässlichen Partner der USA zu etablieren. Dazu durfte es nicht zu selbständig werden. (10) Es sollte helfen, die von Truman bereits am 16. April 1945 skizzierte künftige Außen- und Wirtschaftspolitik der USA als globaler Führungsmacht zu unterstützen. (11) Zudem sollte Westeuropa ein Grundgerüst zur europäischen Integration ausbilden und Motor der transatlantischen Kooperation werden. (12) Eine entscheidende Rolle dürfte auch der enorme Außenhandelsüberschuss der USA gespielt haben. Die Konzerne –allen voran der Militärisch-Industrielle Komplex – brauchten dringend neue Märkte, die Oligarchen nach den Kriegsprofiten weitere Gewinne, und die Plutokraten wollten zudem ihre Macht ausweiten.

Die aus den USA importierten Waren wurden zu 90 Prozent aus dem Marshallplan bezuschusst, 10 Prozent mussten selbst bezahlt werden. (13) Den Gegenwert der Zuschüsse mussten die Empfängerländer dann allerdings in inländischer Währung in Gegenwertfonds (Counterpart Funds) einzahlen. In Deutschland verwaltet die am 16. Dezember 1948 ins Leben gerufene "Kreditanstalt für Wiederaufbau" (KfW) noch heute das ursprünglich aus dem Marshallplan entstandene Sondervermögen, dessen Verwendung nach wie vor durch die "Economic Cooperation Administration" (ECA) genehmigt werden muss. Die USA gewährten im Rahmen des Marshallplans Gelder in Höhe von insgesamt fast 14 Milliarden Dollar, Westdeutschland erhielt davon ca. 1,4 Milliarden. Die Gesamtsumme entspricht einem heutigen Geldwert von etwa 130 Milliarden US-Dollar (Stand 2015).

Zum Vergleich: 2012 hat Deutschland allein zur Euro-Rettung nach der Finanzkrise von 2007/2008 Hilfsprogramme für Irland, Portugal und Griechenland betreut und eine maximale Haftung von bis zu 211 Milliarden Euro übernommen. Wird das Volumen für Hilfskredite beider Schirme einfach addiert, könnte die deutsche Gesamthaftung im schlechtesten Fall sogar auf rund 400 Milliarden Euro hochschnellen. (14) Die auf Deutschland zukommenden Beiträge im Rahmen des aktuellen Ukrainekriegs dürften diese Summen noch weit übersteigen.

Das auf kapitalistischen Prinzipien und Freihandel aufgebaute „Hilfsprogramm“ stand sozialistischen Prinzipien diametral entgegen. Zudem verlangten die USA als Gegenleistung für den Erhalt von ERP-Mitteln Einsicht in die Budgetplanungen der betreffenden Länder. (15)

Nur wenige Wochen nach Marshalls Rede, am 26. Juli 1947, wurde der "National Security Act" verabschiedet, eines der wichtigsten Gesetze in der amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Mit ihm wurde die Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf institutioneller Ebene vollzogen. Nach einer Analyse von Harvey Sapolsky und Kollegen aus dem Jahr 2009 ist der National Security Act bis heute Grundlage weltweiter amerikanischer Militärmacht. (16)

Die wichtigsten Punkte des Gesetzes waren die Zusammenlegung des vorherigen Kriegsministeriums und des Marineministeriums, die Schaffung einer unabhängigen Luftwaffe (USAF), die Beibehaltung und Institutionalisie- rung des während des Krieges eingerichteten Vereinigten Generalstabs (Joint Chiefs of Staff, JCS), die Schaffung des Nationalen Sicherheitsrats (NSC) so- wie die Gründung der "Central Intelligence Agency", der CIA.

Walter Lippmann, einflussreicher Propagandist des Neoliberalismus und einer gelenkten Demokratie, schrieb 1947 im Zusammenhang mit der Einbindung von Griechenland und der Türkei in den Marshallplan: „Wir haben die Türkei und Griechenland nicht deshalb ausgewählt, weil sie besonders hilfsbedürftig sind, und auch nicht deshalb, weil sie glänzende Muster für Demokratie sind, sondern weil sie das strategische Tor darstellen, das ins Schwarze Meer führt, in das Herz der Sowjetunion.“ (17)

Im Jahr 2021 war dieses strategische Tor für die US-/NATO-Aktivitäten weit geöffnet. Im Rahmen des mehrmonatigen Manövers Defender Europe 21 fanden die Schwerpunktaktivitäten in der Region des Schwarzen Meers statt: ein sichtbarer Erfolg der offenen Aggressivität der Truman Doktrin und des Marshallplans.

Alle drei Ereignisse - "Truman-Doktrin", Marshallplan und der "National Security Act" – stehen in einem direkten Zusammenhang.

Im März 1948 beschlossen die vom Marshall-Plan subventionierten Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und der drei kleinen Benelux-Monarchien den "Brüsseler Pakt": Er verstand sich als Militärbündnis gegen eine erneute deutsche Aggression und gegen eine drohende sowjetische Aggression.

Am 4. April 1949 wurde die NATO offiziell als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion gegründet. (18)

Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, formulierte salopp die Aufgabe der NATO: „die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“ (19). Im Bündnisvertrag wurde festgehalten, dass wirtschaftlicher Wiederaufbau und wirtschaftliche Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit seien – daher der Marshallplan.

Am 19. Dezember 1949 verabschiedeten die USA den Kriegsplan "Dropshot", mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte. In der »Grundannahme« heißt es wörtlich: „Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.“ (20)

Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29.000 hochexplosive Bomben auf 200 Ziele in einhundert Städten abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt. Als dann jedoch 1957 der fiepsende Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für Dropshot wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.

1951 stellte der Koreakrieg den Auftakt für weitere Kriege in Südostasien dar, begleitet von Destabilisierungsmaßnahmen. Den Auftakt zu einer Reihe gewaltsamer, völkerrechtswidriger Umstürze bildete 1953 der Sturz des demokratisch gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh in einer Geheimoperation namens Ajax. In der Folge übernahm ein internationales Konsortium die Förderung und Vermarktung des iranischen Erdöls für die nächsten 25 Jahre. Dabei wurde der Anteil britischer Firmen auf 40 Prozent reduziert – bei gleichzeitigem Einstieg von fünf amerikanischen Ölgesellschaften mit zusammen 40 Prozent Geschäftsanteil. (21)

Am 4. Juni 2009 gestand Präsident Barack Obama in seiner Rede an die islamische Welt als erster US-Regierungschef öffentlich das ein, was die CIA jahrzehntelang geleugnet hatte: „Mitten im Kalten Krieg spielten die Vereinigten Staaten eine Rolle beim Sturz einer demokratisch gewählten iranischen Regierung.“ (22) Ein Geständnis ohne Einsicht. Denn Obama und sein Vizepräsident Joe Biden spielten im Februar 2014 selbst die zentrale Rolle beim Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowytsch; dabei standen geostrategische Ziele im Hinblick auf die Zerstörung Russlands im Vordergrund.

Am 29. Juni 2022 räumte NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf dem NATO-Gipfel in Madrid ein, dass sich das Bündnis seit 2014 auf einen Konflikt mit Russland vorbereitet hat. (23) Vor Medienvertretern erklärte er, „dass das Militärbündnis seit der Machtübernahme durch russische Truppen auf der Halbinsel Krim damit begonnen habe, seine Truppen in Osteuropa zu verstärken“ (24).

Die Bewohner der Krim wurden 1954 nicht gefragt, ob sie zur Ukraine wollen. 1991 strebte die Krim die Unabhängigkeit an. Warum ist der "Werte-Westen" nicht bereit, den Menschen auf der Krim ihr verbrieftes Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen? Warum der jahrelange Krieg im Donbass mit der Ausweitung zu einem großen europäischen Krieg?

Vor den Staats- und Regierungschefs sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky (er nahm nur virtuell teil), die Russische Föderation wolle die künftige Weltordnung diktieren. Das ist eine ungeheure Unterstellung, und sie ist lächerlich angesichts der permanenten NATO-Osterweiterung seit 1991. Die USA sind es, die konsequent nach einer unipolaren Weltordnung streben (eine "neue Ordnung der Zeitalter" findet sich auf der Rückseite – darüber das Auge der Vorsehung über einer unvollständig gemauerten Pyramide – des Siegels der Vereinigten Staaten) (25). Und die US-Langzeitstrategie TRADOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020-2040“ ist in diesem Sinn mehr als eindeutig.

Abschließend forderte Zelensky Sicherheitsgarantien vom Westen und wies darauf hin, dass die Ukraine fast 5 Milliarden Dollar pro Monat für Verteidigung und Schutz benötige.

Vor dem aufgezeigten Hintergrund wird deutlich, dass der von Scholz geforderte Marshallplan für die Ukraine mit dem Marshallplan von 1947 nur eine Parallele hat: Stärkung der Ukraine als Rammbock gegen Russland. Unter dieser Überschrift hat der Autor in Schwarzbuch EU & NATO (2020) dem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet.

Der Marshallplan von 1947 war ein Plan des Kriegsgewinners USA (militärisch und wirtschaftlich) zum Wiederaufbau der kriegsgebeutelten westlichen Verbündeten (der Verlierer Deutschland kam später hinzu). Eine derartige Situation stellt sich heute nicht dar. Europa hat keine moralische Schuld gegenüber der Ukraine – höchstens vielleicht eine Mitverantwortung beim Putsch auf dem Maidan, dem Ausblenden von acht Jahren Bürgerkrieg sowie Interesselosigkeit bei der Umsetzung von Minsk I und II.

Was die Welt jetzt braucht, ist kein leeres Geschwätz über eine Neuauflage des Marschallplans, sondern aktives Handeln in Richtung Waffenstillstand, das hoffentlich in einen FRIEDEN mündet, welcher den Namen verdient.

Oberste Pflicht von Bundeskanzler Scholz muss es zunächst sein, dass Deutschland nicht weiter in den Krieg hineingezogen wird.

Angesichts weiterer Lieferungen von Panzerhaubitzen 2000 und der Eskalation durch Litauens Blockierung des russischen Transitverkehrs nach Kaliningrad (früher Königsberg) und die Erhöhung der Zahl der NATO-Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40.000 auf mehr als 300.000, wird vor einem möglichen Frieden wohl die Ausweitung des Krieges stehen.

Das in Madrid nach dem NATO-Gipfel verabschiedete neue strategische Konzept liest sich wie eine Kriegserklärung an Russland und hat der Eskalationsspirale einen weiteren Impuls gegeben. In Madrid kündigte US-Präsident Joe Biden eine umfassende Aufstockung der US-Truppen (auf 100.000) in Europa an sowie die Einrichtung eines ständigen US-Militärhauptquartiers in Polen – ein bisher noch nie dagewesener militärischer Vorstoß der USA in einem Land des ehemaligen Warschauer Pakts. Dazu soll in Rumänien eine zusätzliche "Rotationsbrigade" mit 5.000 Mann stationiert werden, sollen zwei zusätzliche F-35-Kampfstaffeln nach Großbritannien verlegt und in Deutschland und Italien zusätzliche Luftabwehrsysteme in Stellung gebracht werden – was ja nur Sinn macht, wenn mit Luftangriffen auf diese NATO-Staaten gerechnet wird.

Schweden und Finnland wurden nun offiziell eingeladen, dem Bündnis beizutreten. (26) Vorausgegangen war ein wochenlanges Tauziehen mit dem türkischen Autokraten Erdogan. Er schaffte es, dass die zukünftigen Nato-Länder sich weitgehend den türkischen Forderungen beugten. Sie kündigten bereits an, dass kurdische Aktivisten, die von der Türkei als „Terroristen“ bezeichnet werden, an die Türkei ausgeliefert werden – und dies, obwohl ihnen in der Türkei Folter und lange Haftstrafen drohen. (27) Über den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei gegen die Kurden in Syrien oder im Irak wird die NATO weiterhin wohlwollend hinwegsehen.

Mit dem NATO-Beitritt von Schweden und Finnland verdoppelt sich die Landgrenze der NATO zu Russland, das als die "bedeutendste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten" definiert wird. Mit Schweden und Finnland wird die Ostsee zu einem NATO-Meer. Nun kann auch der Seezugang zu Kaliningrad von der NATO gestört werden (Zur Erinnerung: das Korridorproblem zwischen Deutschland und Polen führte am 1. September 1939 in den Zweiten Weltkrieg), und das NATO-Land Türkei kann der russischen Schwarzmeerflotte den Zugang zum Mittelmeer versperren. Zugleich kontrolliert die NATO über die Straße von Gibraltar den Zugang zum Mittelmeer. Die angelsächsische Meerengenpolitik ist immer noch sehr erfolgreich. Mit der gegenwärtigen Situation können die US-Strategieplaner von "Win in a Complex World 2020-2040" (September 2014) sehr zufrieden sein.

Doch wie könnten die Reaktionen auf der anderen Seite des Schachbretts aussehen? Wird man dort warten, bis USA und UK noch mehr Militärmaterial für einen Angriff auf Russland nach Europa schaffen? Im Februar 2007 hat Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits die rote Linie gezogen: weder Georgien noch die Ukraine dürfen Teil der NATO werden. Da westliche Politiker nicht müde werden, immer wieder zu betonen, dass Russland besiegt werden muss, und damit Putin unmissverständlich deutlich machen, dass momentan ein Abnutzungskrieg gegen Russland als Stellvertreterkrieg mit der NATO geführt wird, wird es das Ziel des Kremls sein, die Strukturen von NATO und EU zu zerschlagen bzw. funktionsunfähig zu machen. Da im sog. "Werte-Westen" die Stimmen, die zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit Russland raten (z.B. Sarah Wagenknecht, Alice Weidel), diffamiert werden, muss man kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass in Europa wieder wie 1914 die Lichter ausgehen könnten (Edward Grey, damals britischer Außenminister), sofern nicht doch noch ein Wunder geschieht.


Fußnoten:

1) https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw25-de-regierungserklaerung-897774
2) https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/g7-gipfel-elmau-kanzler-scholz-2058172
3) Die ehemaligen Soldaten konnten aufgrund eines Gesetzes zur Unterstützung bei der Wiedereingliederung von Veteranen des Zweiten Weltkriegs in das zivile Leben studieren, 22. Juni 1944; Eingetragene Gesetze und Resolutionen des Kongresses, 1789-1996; https://www.archives.gov/milestone-documents/servicemens-readjustmentact#:~:text=Signed%20into%20law%20by%20President,WWII%20and%20later%20military%20conflicts
4) Zitiert aus Opinion: The 75-year-old lesson for pushing back against Putin https://edition.cnn.com/2022/06/07/opinions/marshall-plan-wwii-anniversary-peace-avlon/index.html
5) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/252298/umfrage/armeestaerken-im-zweiten-weltkrieg-nach-laendern/
6) Zit. wie Görtemaker, Manfred et al.: Das Ende des Ost-West-Konflikts, Berlin 1990, S. 58
7) Siehe Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO, Höhr-Grenzhausen 2020, S. 99f.
8) Zit. wie www.academia.edu/32323328/Die_ungarische_Revolution_von_1956_pdf
9) Vgl. ebd.
10) Vgl. Michelle Cini, From the Marshall Plan to EEC: Direct and Indirect Influences. In: Schain 2001, S. 34
11) Hofbauer, Hannes: Westwärts Österreichs Wirtschaft im Wiederaufbau, Wien 1992, S. 44 f.
12) Auch das Clayton-Memorandum vom 27. Mai 1947 dachte eine »Europäische Wirtschaftsföderation« an. Vgl. Roman Fried: Marshall-Plan und österreichischer Wiederaufbau. Eine Betrachtung vor dem Hintergrund des Kalten Krieges; http://othes.univie.ac.at/10266/1/2010 -05-15_0501711.pdf (abgerufen am 21.5. 21)
13) Curt Tarnoff: The Marshall Plan: Design, Accomplishments, and Relevance to the Present. In: Report for Congress. 6.1.1997, S. 13 (abgerufen am 24.1.2021)
14) Der dauerhafte Geldtopf zur Eu-ro-Rettung wurde vom Bundeskabinett beschlossen – dabei sind wichtige Details noch nicht geklärt: Die parlamentarische Kontrolle und die genaue Haftungssumme für Deutschland vom 14.3.2012. Vgl. www.handelsblatt.com/ politik/deutschland/rettungsschirm- schlimmstenfalls-haftet-deutschland- fuer-400-milliarden-euro/6327118-2. html?ticket=ST-8149832-i1rJVtWdT- c0RacxGBVj2-
15) Rebecca Belvederesi-Kochs und Paul Thomes: Der Marshall-Plan. In: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, https://www.europa.clio-online.de/ essay/id/fdae-1526
16) Vgl. Sapolsky, Harvey/Gholz, Eugene/Talmdge, Caitlin: US Defense Politics London 2009, S. 4
17) Lippmann, W.: The Cold War. New York 1947, S. 29 f.
18) Die Gründerstaaten der NATO sind Kanada und die USA und die europäischen Länder Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal
19) https://internationalepolitik.de/de/nordatlantische-allianz
20) LONG-RANGE PLANS FOR WAR WITH THE USSR – DEVELOPMENT OF A JOINT OUTLINE PLAN FOR USE IN THE EVENT OF A WAR IN 1957 (Short Title --"DROSHOT")
21) https://web.archive.org/ web/20080327181230/http://www.nioc. ir/brief_history/page6.html
22) https://obamawhitehouse.archives. gov/issues/foreign-policy/presidents- speech-cairo-a-new-beginning
23) https://www.republicworld.com/world-news/russia-ukraine-crisis/natos-stoltenberg-admits-alliance-has-been-preparing-for-conflict-with-russia-since-2014-articleshow.html
24) Ebd.
25) Auf der Rückseite der gültigen Ein-Dollar-Note befindet sich seit 1935 das stilisierte Siegel der USA
26) http://www.defenddemocracy.press/nato-is-preparing-world-war-against-russia-and-china/
27) https://www.fr.de/politik/tuerkei-erdogan-nato-beitritt-schweden-finnland-zugestaendnisse-weder-ueberzeugend-noch-werteorientiert-zr-91643076.html
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, ehemaliger Offizier der Bundeswehr, setzt sich als Autor seit seinem ersten Buch „Pax americana“ (2004) engagiert für den Frieden ein. Im April 2022 erschien von ihm "Die unterschätzte Macht: Von Geo- bis Biopolitik - Plutokraten transformieren die Welt". Weitere Bücher von ihm zum Thema:
"Wiederkehr der Hasardeure" (2014, Koautor Willy Wimmer), die Trilogie „Europas Verhängnis 14/18“ (2018/19) sowie "Schwarzbuch EU & NATO" (2020).


Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, ehemaliger Offizier der Bundeswehr, setzt sich als Autor seit seinem ersten Buch „Pax americana“ (2004) engagiert für den Frieden ein. Im April 2022 erschien von ihm "Die unterschätzte Macht: Von Geo- bis Biopolitik - Plutokraten transformieren die Welt". Weitere Bücher von ihm zum Thema: "Wiederkehr der Hasardeure" (2014, Koautor Willy Wimmer), die Trilogie „Europas Verhängnis 14/18“ (2018/19) sowie "Schwarzbuch EU & NATO" (2020)