Freitag, 5. Oktober 2012

Aufs "Shoppen" reduziert


Aufs „Shoppen“ reduziert


Der Mensch steht im Mittelpunkt. Schon gehört und gelesen? Früher, vor der „Wende“ und auch heutigentags. Je nachdem, wer auf den Menschen blickt, erweitert sich oder verengt sich der Blickhorizont. Der wahre Humanist sieht in ihm eine Persönlichkeit, die sich allseitig fachlich und kulturell bildet und sich in Würde entwickeln möge, vor allem im Arbeitsleben und im Privaten. Der im Dienste des Kapitals stehende Politiker sieht ihn ihm vor allem ein Kreuzchenmacher bei Wahlen. Ein Unternehmer und Wirtschaftsboss allerdings hat naturgemäß den engsten, raffiniertesten und trickreichsten Blick. Er berücksichtigt alle Umstände, die den Einzelnen veranlassen könnte, immer tiefer in den Geldbeutel zu fassen. Der Mensch ist für diese Truppe der „Fürsorglichsten“ nichts weiter als ein Käufer, ein Konsumidiot.

Und so sieht denn auch das nicht erst heute propagierte Menschenbild der Meinungmanipulation aus: Shoppen, Saufen, Essen. Darauf, und nur darauf richtet sich das große „menschliche Interesse“ der Kapitalmachthaber. Und nur so funktioniert die Wirtschaft.

Diesem natürlichen Streben nach Profit und noch immer mehr Geldakkumulation, um im Luxus überleben zu können, dienen selbstverständlich auch gewisse Analysen und Statistiken. Schließlich sollten die oberen zehntausend Staats- und Wirtschaftlenker schon unter die Nase gerieben bekommen, wo sie günstig und mit hohem Gewinn weiterhin investieren können.

Wie wohl fühlen sich die Menschen in deutschen Großstädten? Was und wer gibt den Ausschlag, dass sie sich gut oder weniger gut fühlen? Ist es das Vergnügen, das Essen und Wohnen oder mehr das grundlegende, nämlich die Arbeit, also das Gebrauchtwerden?

Wen aber interessieren derlei Fragen? Es sei denn, man wolle in eine andere Stadt umziehen und will wissen, was der neue Wohnort denn so zu bieten hat. Auskunft gibt eine Studie, die die „ServiceValue GmbH“ verfasst hat. Sie ist ein auf Servicequalität und Wertemanagement spezialisiertes Analyse- und Beratungsunternehmen. Vielsagend ist die Studie überschrieben mit „Bürgerbefragung: Lebensqualität in Deutschlands Großstädten 2012“. Die Online-Befragung hatte sich im September 2012 an 2101 Einwohner der 15 Großstädte gewandt. Sie gibt in Zahlen Antwort über die Lebensqualität in diesen Städten Deutschlands. Die Analytiker kommentieren das so: Was verbindet die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Großstadt? Nicht die Arbeit – vielmehr das Flair und die Atmosphäre. Diese beiden Aspekte haben den größten Einfluss auf die Identifikation, die Treue, die Weiterempfehlung und auch die emotionale Geborgenheit. An zweiter Stelle folgen „Leute und Mentalität“, dann „Leben und Wohnen“, „Essen und Trinken“ sowie „Einkaufen und Shoppen“. Auf dem letzten Platz von insgesamt 19 untersuchten Teilqualitäten landen „Arbeit und Ausbildung“. Das Ziel sei, so die Macher, aufzuzeigen, „wie sich der Unternehmenswert durch optimale Servicegestaltung gegenüber Kunden, Mitarbeitern und Partnern entwickeln lässt.“


Und an dieser Stelle sollte man bereits stutzig werden. Den größten Anteil der befragten Einwohner stellen die 25 bis 34jährigen, also die zur sogenannten Wendezeit noch Kinder waren. Gleichfalls wurden Leute mit 1.501 bis 2.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen in den Fiskus genommen. Also gut Situierte, vor allem jene, die bis zu 5000 Euro verdienen und darüber. Auffällig: 62 Prozent der Befragten sind in Vollzeit beschäftigt und 68 Prozent im Angestelltenverhältnis. Leider befinden sich lediglich 13 Prozent Arbeiter und 14 Prozent Selbstständige/Freiberufler unter den Befragten. (Sie fallen durchs Sieb bei der Zielgruppenfindung.)

Die Statistik ist also vor allem ein Wegweiser für die Wirtschaft und macht klar, wo das Geld locker sitzt und wo noch mehr zu holen ist. Das sind – aufgepaßt, liebe Unternehmer – zum Beispiel Düsseldorf. In allen Parametern wie Arbeit und Ausbildung, Leben und Wohnen und Einkaufen und Shoppen haben die Düsseldorfer die Nase vorne.

Besonders aufschlußreich: Die Kriterien „Einkaufen und Shoppen“, „Essen und Trinken“ sowie „Events und Feste“ besitzen die höchste Priorität. Selbst in Berlin, wo „Arbeit und Ausbildung“, „Leben und Wohnen“, „Schulen und Bildung“ und „Umwelt und Sauberkeit“ die roten Laternen bei der Befragung bilden, behaupten sich auf  Platz Eins u.a. „Events und Feste“, „Freizeit und Tourismus“, „Ausgehen und Nachtleben“ sowie „Einkaufen und Shoppen“.

 Wenn Arbeit und Ausbildung nahezu unter den Tisch fallen, wie soll man dann die Spaßgesellschaft verstehen, da doch die Würde des Menschen und sein Geldbeutel geradezu von diesen so sehr grundlegenden Faktoren abhängen? Die Antwort liegt auf der Hand: Schon vergessen - wir sind ja beim Thema Dienstleistungen für unternehmerische Initiativen und nicht beim allseitigen sozialen Wohl für die Bürger.

 Wie froh und glücklich kann sich ein Staat wie Deutschland also wähnen, wenn es stets zufriedene Bürger hat, die – trotz Arbeitslosigkeit und zunehmendem Zwiespalt zwischen Arm und Reich - mit jedem Spaß und Ulk ihr mitunter zukunftsloses Dasein fristen. Aber das ist ja – das sollte man eben nicht vergessen – kein Thema für die Großverdiener. Insoferm ist diese Untersuchung an die richtigen Adressaten gerichtet. Und die richten ihren spezifischen Eng-Blickwinkel auf die Kaufkraft Mensch, wie sollte es anders sein in diesem System.

 Das Signal für die Staatenlenker und Wirtschaftsbosse: Laßt uns weiter Gewinne machen und genießen – Dank der zufriedenen Geborgenheit unserer Bürger. So mucken sie nicht auf und halten still. Im Klartext: „(…) Indem man die Menschen auf ihren wirtschaftlichen Nutzen reduziert, nimmt man ihnen das, was sie eigentlich erst dazu macht. Sie fristen ihre Existenz als gesellschaftliche Nutztiere und werden auch als solche behandelt…“ (Max Horkheimer, „Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie“, Frankfurt/M. 1979. S. 73)

Dennoch, die ServiceValue, nachzulesen im Internet, darf sich des vielfachen Dankes ihrer Kunden rühmen. Hier nur ein Beispiel: 30.9.2010, Thomas Steck, Direktor Kundencenter und Außendienst, OTTO (GmbH & Co KG): "Wesentlicher Erfolgsfaktor unseres Unternehmens ist die starke Kundenorientierung, denn „Gute Gewinne“ schaffen langfristiges Wachstum – „Schlechte Gewinne“ werden auf Kosten der Kundenbeziehung erwirtschaftet, d.h. dem Kunden wird Wert entzogen. Dr. Dethloff und sein Team zeigen den Weg zu guten Gewinnen. Und auch Danke für Ihre beispielhafte Initiative beim Aufbau des branchenübergreifenden Wettbewerbs „Deutschlands kundenorientiertester Dienstleister“.


(ServiceValue GmbH, Köln, Autoren: Dr. Claus Dethloff / Jan Hoffmann, ISBN 978-3-939226-47-5)

Besprechung von Harry Popow

 

                                              

 

 

 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 27. September 2012

Treffsicher - der "Narrenzug..."


Hallo Harry , gratuliere ! Deine Rezi heute im Blog ist ,wie schon so oft, Spitze und ganz nach meinem Geschmack.

Habe mich schon vor Jahren und in Folge bei beinahe jeglicher Diskussion zum Thema EU und Euro auf Lenins " Über die vereinigten Staaten von Europa " bezogen .Leider oft belächelt , weil der alte Herr ja eben so alt wäre .

Der Kern der Aussagen ist geblieben : Das Wesen des Kapitalismus , seine ungleichmäßige Entwicklung , das zum Staatsmonopolismus mutierte Kapital und die weitestgehende Verselbstständigung des Finanz - und Bankkapitals.

Da ändert auch Steinbrücks Versuch der Aufspaltung des Bankkapitals zum Zweck der besseren Kontrolle und Regulierung nichts . Das wird nicht gelingen . Es wird im Gegenteil dazu führen , dass auf Grund der wütenden Gegenangriffe des Kapitals damit schon die nächste Wahlniederlage der SPD vorprogrammiert ist . Wir werden´s sehen !

Gruß von Alex

Dienstag, 25. September 2012

Im Narrenzug ins Disneyland...

„Euroland wird abgebrannt“. Profiteure, Opfer, Alternativen / Lucas Zeise

Buchtipp von Harry Popow

Da kann man schon schockiert sein: Du sitzt im Schnellzug ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Dir wurde zwar ein tolles einheitliches Europa vorgegaukelt, in dem du überall in gleicher Währung zahlen kannst - aber der Zug verlangsamt seine Fahrt, hält nicht mehr an jeder Station, gerät schließlich ins Stocken und ein jeder muß aussteigen und Brennholz (sprich erhöhte Steuern) für eine schwerfällige Weiterfahrt sammeln. Schöne Aussichten. Und kaum einer macht sich über den Preis Gedanken, der für diese Fahrt ins „Glück“ zu zahlen sein wird?

Die bisher zurückgelegte fehlerhafte Strecke und die „Zukunftsaussichten“ dieser Narrenfahrt beschreibt Lucas Zeise in seinem neuesten Sachbuch „Euroland wird abgebrannt“. Der Autor, Finanzjournalist mit einem Studium der Volkswirtschaft und Philosophie, führt den Leser in acht Abschnitten anschaulich und in einer sauberen sprachlichen Diktion vor Augen, wie die EU im Jahre 1992 aus der Taufe gehoben wurde, welche Vorteile der einheitliche Binnenmarkt gehabt hätte und welchen unsinnigen und katastrophalen Zielen wegen seiner fehlerhaften Konstruktion der Eurozug entgegenfährt. Ohne extra auf den großen russischen Klassiker hinzuweisen, der in seinem Aufsatz „Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa“ davor warnte, dass „die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ seien, entwirrt Zeise den Knäul des Warum und Wofür dieser Zusammenballung des europäischen Kapitals.

Dies in diesem Beitrag außen vor lassend räumt der Autor gewisse Vorteile des einheitlichen Binnenmarktes ein. Die Pluspunkte wären zum Beispiel: ein großer Währungsraum ermögliche es den beteiligten Volkswirtschaften, „sich weitgehend den irrationalen Bewegungen der Finanzmärkte, speziell des Devisenmarktes entziehen“ zu können. Weiter: „Die Kapitalisten und ihr Staat können sich einfacher und billiger selbst finanzieren.“ So sei die Finanzierung von Unternehmen und Staat weniger abhängig von den Launen der Finanzmärkte. Ein großer Währungsraum könne sich notfalls auch vom internationalen Kapitalmarkt abkoppeln. Nicht zu vergessen: Nach dem II. Weltkrieg ergab sich zum ersten Mal „die Chance, mit den USA hinsichtlich der Vorteile einer Anlage- und Leitwährung gleichzuziehen“. (S. 61)

Nicht ohne Ironie widmet sich Zeise auch den „Vorteilen“ von Spekulationen. So schreibt er: „In spekulativen Hochphasen wird also die Tendenz des neoliberalen Wirtschaftsmodells zu Stagnation und Unterkonsumtion überspielt. Die Spekulation suggeriert steigende Gewinne in der Zukunft. Die Investitionen steigen. Sie schaffen zusätzliche Nachfrage und fördern damit den Aufschwung. Der bei steigenden Vermögenspreisen explodierende Reichtum in den Händen der an der Spekulation Beteiligten, färbt außerdem auf die übrige Gesellschaft ab. Die immer reicher werdenden Spekulanten fragen mehr Luxusgüter nach, sie bauen sich Häuser und Paläste und richten sie ein. Die zahlungskräftige Nachfrage nach Porsches, nach Immobilien, nach Reisen in der Busineß- oder der ersten Klasse steigt. Auch dadurch wird die Realwirtschaft angeregt. Wenn die Spekulationsblase geplatzt ist, schrumpft umgekehrt diese Nachfrage drastisch.“ (S. 27)

 Doch zum Kern des Schlamassels: Bereits einleitend stellt Zeise fest, man müsse die Krise der europäischen Währungsunion als Bestandteil der den ganzen Globus umfassenden aktuellen Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise begreifen. (S. 8) Auf den Seiten 16/17 legt er vor allem die Finger auf die unüberwindbaren Wunden auf das neoliberale kapitalistische Wirtschaftsmodell: Es gehe radikaler und direkter um die Erhöhung der Kapitalrendite. Folglich: Druck auf die Gewerkschaften, auf die Löhne, denn mit allen Mittel muß die Mehrwertrate gesteigert werden. Kapitalverkehr über alles. Dazu werden auch die nationalen Schutzschranken für den Warenhandel und den Kapitalverkehr systematisch abgebaut. So werden stärkere Kapitale bevorzugt und die Monopolisierung vorangetrieben. „Um die Kosten für das Kapital niedrig zu halten, wird der Staat kurz gehalten und geplündert. Die Privatisierung von Staatsvermögen, die Vernachlässigung der Infrastruktur, von Bildung und Erziehung und Gesundheit der breiten Bevölkerung gehören zum Kern des neoliberalen Credos.“

Dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen krankt, sei allgemein bekannt, aber das helfe nicht weiter, so der Autor. (S. 44) In polemischer Auseinandersetzung mit der Auffassung, das Finanzkapital spiele keine eigenständige Rolle, weist der Autor nach, dass die Banken und das Finanzkapital durchaus fähig sind, „Geld aus dem Nichts zu schaffen“. (S. 48)

Warum ist die auf einer Konferenz am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht beschlossene europäische Währungsunion eine verfehlte Konstruktion, wie Lucas Zeise analysiert? (S. 57) Wichtig dabei ist die Feststellung des Autors, daß dieEuropäische Währungsunion „nicht nur den politischen Interessen der deutschen Regierung entsprach, sondern vor allem den wirtschaftlichen Interessen der deutschen Unternehmen.“ (S. 60) Deshalb dürfen sogenannte heilige Kühe einfach nicht geschlachtet werden. Dazu gehört, so der Autor, nicht nur schlechthin das Privateigentum, sondern auch der Wettbewerb (Konkurrenzkampf) untereinander, also auch zwischen den Ländern der Europäischen Union. Von Vorteil für alle (S. 64) wäre eine gewisse Spezialisierung gewesen. Allerdings wurden die Standortvorteile, die ja „höchst ungleich verteilt waren“, „durch die Fehlkonstruktion des Euro und die Wirtschaftspolitik der Kernländer sogar noch verstärkt“. Das Entscheidende dabei: Statt mit Transferleistungen für den Fluß von Überschuss- zu den Defizitregionen zu sorgen, fehlen staatliche Institutionen. Seite 69: „An die Stelle von staatlicher Regulierung tritt dabei der ´Wettbewerb´. Und um die Konkurrenz zu befördern, gilt als oberstes und nachgerade heiliges Prinzip die Freiheit des Kapitalverkehrs.“

Welche Lösungswege bietet der Autor an? Will man die Währungsunion erhalten, so Zeise, sollten die grundsätzlichen Mängel der Euro-Konstruktion beseitigt werden. Sie könne nur durch „einen höheren Grad der staatlichen Integration (…) überleben.“ (S. 130)  Dazu müsse jedoch „das Prinzip des Wettbewerbs der Staaten (um die Gunst des Kapitals)“ aufgegeben und „durch staatliche Institutionen“ ersetzt werden. Er plädiert für eine Angleichung der Steuersysteme, der sozialen Systeme und für den Aufbau einer zentralen EU-Regierung.(S. 130) Auch müssten die „neoliberale Umverteilung von unten nach oben gestoppt und umgekehrt werden; zweitens muss der Finanzsektor massiv geschrumpft und damit die Macht des Finanzkapitals beschnitten werden.“ (S. 132)

Auf den Punkt gebracht: „Der Euro scheitert nicht deshalb, (…) weil die an der Währungsunion beteiligten Länder kulturell und ökonomisch so unterschiedlich sind. Er scheitert vielmehr daran, daß er ein Produkt des Neoliberalismus ist.“(S. 142) Fakt ist: „Das Scheitern des Euro-Projektes bedeutet eine schwere Niederlage des europäischen und deutschen Kapitals.“ (S. 141)

Was steht schon jetzt fest? Die im Zug Sitzenden werden zum Narren gehalten. Sie werden das angestrebte Ziel nicht erreichen. Rechnen müssen sie mit Gehälterkürzungen, Entlassungen, reduzierten Renten, Sozialleistungen und Ausgaben für Forschung und Bildung, mit weniger Investitionen in Straßenbau, Eisenbahn, Wasser- und Stromversorgung. So verschärft auch der Fiskalpakt die Krise, schreibt Lucas Zeise. (S. 126) Trotzdem meinen 73 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage (siehe „nd“ vom 29.09.2012): Uns geht es ja gut. Man hat ja seine einheitliche Währung, man hat ja in Deutschland sein Auskommen, nicht wahr?

Mag manch einer sagen, das alles seien olle Kamellen. Man lasse uns in Ruhe, sollen die da oben nur ihr Zeug machen. Außerdem: Die das Euroland kritisch gegenüberstehenden Schriften nehmen zu, häufen sich. Der große Vorzug Zeises ist es, in sachlicher und gründlicher Weise die eigentlichen Ursachen des gewollten Eurolandes als rein kapitalistisches Streben nach Maximalprofit in den Vordergrund gerückt zu haben. Im Klartext: Euroland kann nicht funktionieren, da die inneren Widersprüche des Kapitalismus eine einvernehmliche Zusammenarbeit zwischen den sehr unterschiedlichen Ländern im europäischen Raum auf der nur Wettbewerbsebene einfach nicht zulassen.

Es ist ein meines Erachtens sehr gut und verständlich verfasster Text besonders dann, wenn er, wie auf Seite 62, die konkrete Situation eines Vorstandschefs als Beispiel anführt. Auch die grau unterlegten Begriffserklärungen wie über Rating-Agenturen und Eurobonds dienen dem leichteren Verständnis.

Der Narrenzug schaukelt weiter ins Land, in ein Land der Märchen und Illusionen. Die Zuginsassen fühlen sich genarrt, und die da oben halten fest an ihren nebelhaften Illusionen, einer von Fehlkonstruktionen und Pleiten bestückten Strategie. Wir leben in einer Gesellschaft der Blendungen und Verblendungen. Disneyland läßt grüßen. Der Preis, der für die Fehlplanungen zu leisten sein wird, ist schon jetzt nicht mehr kalkulierbar. Und die Bundeskanzlerin, an die Adresse der Jugendlichen gerichtet, ruft:  „Das Europa der Zukunft liegt in euren Händen!“ (siehe Märkischer Sonntag, 23.09.2012)

Na dann – weiter eine gute Fahrt ins Glück!!

(„Euroland wird abgebrannt.“ Profiteure, Opfer, Alternativen, Autor: Lucas Zeise,   Papyrossa Verlagsges.; Auflage: 1 (September 2012), ISBN-13: 978-3-89438-483-8,  19,6 x 13 x 1,4 cm, Deutsch, Broschiert: 142 Seiten.)

Mittwoch, 12. September 2012

"In die Stille gerettet" / Textauszug - das war vor 23 Jahren...


Papa, Papa ...!


Der neunte September 1989. Ein Sonnabend. Cleo begleitet mich zum Flugplatz. Das ist allerhand, sie zittert vor innerer Aufregung, sie hat Tränen in den Augen, den schönen, aber sie vertraut mir. Ich bin sehr froh darüber. Wer wagt es, unser Glück zu zerstören? Am Terminal eine lange Schlange. Plötzlich höre ich hinter mir: „Dieser Scheißstaat!“ Ich drehe mich um. Da steht ein großer und schlanker junger Mann, kurze Haare, Lackaffengesicht. Sicher einer von der Sorte der bezahlten Provokateure. Man will, daß man darauf reagiert. So ein Idiot! Später steige ich die Gangway hoch und winke zu der Aussichtsplattform hin, schwenke ein orangefarbenes Frottèhandtuch, alle Passagiere winken mit Schals oder Tüchern. Cleo winkt zurück. Henry verschwindet im Bauch des Flugzeuges. Neben der startbereiten Interflug-Maschine steht eine „Finnair“. Cleo geht niedergeschlagen und heulend zurück ins Flughafengebäude. Plötzlich spricht sie ein finnischer Flugkapitän an: „Warum weinen sie? Haben sie Sorgen? Ausweis dabei? Ich nehme sie mit nach Helsinki!“ Verdattert schaut sie in ein sympathisches Gesicht. Keine Anmache, nur helfen wollen kommt da herüber. „Wieso, wäre denn das möglich?“ fragt sie den Fremden. „Ja, nur schnell junge Frau!“ Ein Bruchteil von Sekunden nur – und ihre Antwort: „Vielen Dank, es wird schon alles wieder. Ich bleibe bei meiner Familie. Sie sind ein mutiger Mann!“ Er geht, dreht sich noch einmal um und lächelt verständnisvoll ... So hätte Cleo eins-drei-fix in Finnland landen können – ohne Henry!

Der Flug nach Budapest. Henry hockt wie ein geprügelter Hund auf seinem Sitz. Er grübelt. Eine Idee reift heran. „Wie wäre es, wenn ich bei der DDR-Botschaft, bei der ich mich ja ohnehin melden soll, um eine offizielle Ausreisegenehmigung für Patricia und M. bitte.“ Das hieße, sie kommen mit nach Berlin, erhalten offiziell die Papiere und reisen ganz legal aus, und nicht über den illegalen Fluchtweg Ungarn, denn das fügt der DDR sehr großen Schaden zu. Etwa 13 oder 14.00 Uhr: Landung in Budapest, schreibt Henry später. War noch nie hier. Muß mich durchfragen. In der DDR-Botschaft sagt man mir, wie ich zum Malteser-Lager komme. Doch zu meinem „Vorschlag“ gibt es nur ein bedenkliches Kopfschütteln. Wieder einmal fehlgedacht. Auf zum besagten Lager. Kein Blick für die Stadt. Suche die Bushaltestelle. Im Bus nachdenkliche, ruhige und besoffene Leute. Einer sabbelt gebrochenes Deutsch: „Honni kommt und holt euch alle zurück!“ Ich fühle ringsumher Fremdheit, etwas, was ich weder gedanklich noch gefühlsmäßig voll begreifen kann, bin ein Spielball der schief gelaufenen Geschichte. Ich weiß nur, du mußt Patricia finden, ihr paar liebe Dinge sagen, und dann schnell wieder zurück zur Cleo, alles andere kann mir so ziemlich gestohlen bleiben. Am Tor des Malteser-Lagers: Man ist mißtrauisch, prüft und wendet meinen Paß und meinen Personalausweis hin und her. Verständlich, haben nach meiner Kenntnis schon andere versucht, hier Leute wieder herauszuholen, auf illegale Art natürlich. Ich versichere, nur meine Tochter sprechen zu wollen. Man zuckt die Schultern in der Aufnahme. Man fragt erstaunt, wieso ich so schnell einen Paß bekommen habe? Ich verweise auf die „Macht“ des Fernsehens. Das sehen die ein. Aber: Bei 2500 Leuten, wie meine Tochter finden? Man versichert, sie suchen zu lassen, inzwischen solle ich an der Anschlagtafel einen Zettel anheften. Die Suchzeilen sollen so abgefaßt werden, daß Patricia mich anhand des Inhalts ohne weiteres erkennen könne. 17.00 Uhr. Sitze auf einer Bank am Rande eines kleinen Platzes mit der besagten Wandtafel. Stiere unruhig in die Runde. Wer soll das alles begreifen? Mütter mit Kleinkindern, junge Leute - alles Feinde? Sie kehrten uns den Rücken. Warum nur? Warum machen wir eine so dumme Politik? Ich schäme mich für diese „Arbeiterpolitik“, möchte am liebsten im Boden versinken, bin einfach sprachlos und es schmerzt die Seele. Wo soll das alles hinführen? Und was soll ich tun? Hier auf gut Glück warten? Und wenn der Abend hereinbricht und nichts tut sich? Habe noch keine Übernachtung, morgen werde ich Patricia finden müssen.

Langsam stehe ich auf, nehme meinen kleinen schwarzen Koffer, bin tieftraurig, mutlos. Irgendwo muß der Ausgang aus diesem weitläufigen Lager sein, ich folge einfach einem Weg. Junge Leute stehen Schlange an einer Baracke, vielleicht das Abendessen, denke ich und schlurfe langsam weiter. Plötzlich höre ich hinter mir einen Ruf, der mir durch Mark und Bein geht: „Papa, Papa ...!“ Diese Stimme - es die Tochter. Schnurstracks drehe ich mich um. Natürlich, da kommt sie schon auf mich zugestürzt – unsere Patricia!!! Bei der Umarmung sagt sie, ich sei ein Abenteurer, hierher zu kommen. Ich begrüße auch M., ihren Freund, der wohl glaubte, ich würde ihm ernsthafte Vorwürfe machen. Wenig später sitzen wir am Rande eines Fußballplatzes, essen ein wenig, trinken, und sprechen über all die Probleme und Sorgen der jungen Leute. Ich versuche zu verstehen, begrüße zwar nicht den Weg über Ungarn, aber das ist nun kein Thema mehr. Inzwischen ist es 21.00 Uhr geworden. Patricia schreibt noch schnell ein paar Zeilen für Mama, dann verabschieden wir uns. Im halbleeren Flughafengebäude wartet ein zermarterter und im Kopf leicht wirrer Vater auf den Rückflug in den frühen Morgenstunden ...

Gegen 12.00 Uhr mittags ist Henry wieder bei Cleo. Sie ist aufgeregt. Rini sitzt im Wohnzimmer, heult, hat heute Geburtstag. Sohn Patrik kommt, seine Mama möge eine Urkunde ausstellen, er will den Eltern den Wartburg schenken. Wozu denn das? Eine Ahnung, eine Gewißheit: Ein weiterer Tiefschlag. Auch er geht! Henry ist müde und zerschlagen, kann nicht mehr kämpfen, fällt matt ins Bett. Mutter und Sohn beschließen, schnell noch alle Pflanzen aus seiner Wohnung zu holen, bevor die Polizei sie versiegelt. Zuviel Zeit vergeht. Cleo schaut sehr beunruhigt aus dem Fenster. Da sieht sie vor dem Haus sein Auto stehen. Mit Pflanzen beladen, aber ohne ihn. Hat ihn die Stasi schon geholt? Cleo faßt sich ans schmerzende Herz ... Hoffentlich kein Infarkt. Indessen trudeln Geburtstagsgäste für Rini ein. Was sie miterleben, ist nicht gerade ein jubelnder, sondern ein tränenreicher Haufen voller Unglücksraben. Da klingelt es stürmisch. Pati ist da! Er habe seine Freundin A. vor der Haustüre getroffen, die auf dem Weg zur Geburtstagsparty war. Wieder einmal habe es zwischen den beiden Streit gegeben. Diesmal mit erfreulichem Ausgang: Patrick läßt seinen Zug nach Ungarn sausen und bleibt hier ... Cleo, Henry, Irina und acht Geburtstagsgästen fällt ein riesengroßer Stein vom Herzen...
(Textauszüge: Harry Popow - „In die Stille gerettet“. Persönliche Lebensbilder. Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3)

Mittwoch, 29. August 2012

"Verführungs-Kunst"

 
„Design und Verbrechen“  Und andere Schmähreden / Hal Foster

Buchtipp von Harry Popow

Hätte ich nicht kürzlich Werner Seppmanns Bericht über die Documenta 13 in Kassel (siehe „junge welt“ vom 10.08.2012) mit Spannung gelesen, ich würde nicht auf Anhieb das Buch von Hal Foster „Design und Verbrechen“ und andere Schmähreden als das erkannt haben, was es ist: hochgradig interessant!

Seppmann: „Die d13 vermittelt ein Wirklichkeitsbild, das dem beim Blick durch ein Kaleidoskop entspricht: Es ist bunt und unstrukturiert, jedoch auch unterhaltsam. Vermittelt werden bunte Bilder, die wirksam verhindern, daß Zusammenhänge deutlich werden und der Betrachter seine sozialen Existenzbedingungen begreifen kann. Das ist beabsichtigt.“

Von Bildern, insbesondere in der Architektur, schreibt auch der englische Autor und Kunsthistoriker Hal Foster, Professor für Kunst und Phgilosophie an der Princeton University und Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift October. Es geht ihm um das Design.

Design! Die visuelle Welt! Deren Gegenstände, so stellt der Autor fest, „reichen von Film, Fernsehen und Internet bis zu visuellen Formen der Darstellung in der Medizin, im Militär, in der Industrie (…) Die visuelle Kultur stehe heute für unsere Welt des gesteigerten Spektakels. (S. 118)

Hinzugefügt sei: Manchmal zur Freude der Menschen, manchmal als Zumutung, ja, als Angriff auf die Seele der Leute, als Provokation der Sinne, als direkter und unverschämter und gieriger Griff in den Geldbeutel: Kaufen, kaufen, kaufen!!!

Dem Autor ist zu danken, die Kausalität zwischen Design und Marktgeschehen und damit auch zur Deformation des menschlichen Willens und seiner Würde näher ausgeleuchtet zu haben.

In acht Beiträgen auf 222 Seiten setzt er sich mit zahllosen „Kunstexperten“, deren Denkweisen und Projekte polemisch auseinander. Er wirft Blicke zurück in die Kunstgeschichte, in Brüche und Korrekturen, in Auseinandersetzungen und Irrtümer. Ihm geht es – das geht aus dem Vorwort hervor –, um das Verschmelzen von Kultur und Kommerz, um das Vordringen von Design im Alltag, um Fallstudien von Karrieren in der Architektur, um die Beziehung zwischen Kunst und Museum, um die konzeptuellen Wege der Kunstgeschichte im späten 19. Jahrhundert, um die Kunstkritik in den USA und schließlich um die verschiedenen Strategien eines Weitermachens nach dem Ende von Moderne und Postmoderne.

„Das ganze Buch hindurch bin ich bemüht“, so der Autor, „kulturelle und diskursive Formen mit gesellschaftlichen und technologischen Dynamiken in Verbindung zu bringen.“ Er wolle ihre politische Dimension in den Blick rücken.

Zu markieren ist also der Weg seiner Erkenntnisse vom Design zum Verbrechen. Was ist darunter zu verstehen? Erfüllt bloßes Design bereits diesen Tatbestand?

Das Ästhetische und das Nützliche  scheinen ineinander aufzugehen und sind zugleich weitgehend kommerziellen Interessen untergeordnet, so der Autor. „Alles – vom architektonischen Entwurf und der Kunstausstellung bis hin zu Jeans (…) scheint in erster Linie unter dem Aspekt des Designs betrachtet zu werden.“  In unserer Konsumwelt gebe der Designer erneut den Ton an. Designobjekte, meint Hal Foster, „sind gleichermaßen ein Wohnhaus und eine Firma, Falten im Gesicht (…) und die eigene Persönlichkeit (…), die Erinnerung an die Vergangenheit (Designer-Museen) und die genetische Zukunft (Designer-Babys).“ (S. 30)

Der Autor fragt sich, ob möglicherweise das „Design-Subjekt“ ein illegitimer Spross des in der Kultur der Postmoderne so hochgehaltenen  „konstruierten Subjekts“ ist?  Und er spricht es klar und deutlich aus: „Gerade wenn man denkt, die narzisstische Logik des Konsums könne nicht noch enger werden, passiert genau das. Design trägt dazu bei, Produktion und Konsum in einem fast perfekten Kreis zu verbinden, viel ´Spielraum´für anderes bleibt dabei nicht.“ (S. 30/31)

Also eine Design-Inflation, da doch auch Kataloge per online die Konsumenten grüßen, anmachen, drängeln? Aber ja doch. Selbst die Verpackung, schreibt Foster, ersetzt quasi das Produkt. Mit meinen Worten: Das A und O sei also, die Aufmerksamkeit der Konsumenten und die bildliche Erinnerung wachzuhalten. Foster spricht von einer „politischen Ökonomie des Designs“ und meint, es gehe um die Restruktuierung der Ökonomie durch Digitalisierung und Computerisierung. Das sei mehr als „Marketingkultur“ oder „Kulturmarketing“, ausgehend von der wachsenden Bedeutung der Medienkonzerne, „die zunehmend im Mittelpunkt ökonomischer Prozesse stehen“.  (S. 33/34)

Foster wirft mehrere Blicke zurück in die Geschichte. Der Stil von 1900 – Art nouveau  oder Jugendstil – drängte in den vergangenen Jahren in Museumsausstellungen und wissenschaftliche Publikationen. Man habe versucht, Gegenständen ihre Subjektivität einzuprägen. In den 1920er Jahren wurde eine Maschinenästhetik tonangebend, schreibt der Autor. Allmählich wurde so aus dem in die Jahre gekommenen Jugendstil Kitsch. „…und in diesem Zwischenreich verharrt er seither.“ Foster schlußfolgert: Wir würden erneut in einer Zeit leben, in der die Disziplinen verschwimmen, in einer Epoche „totalen Designs“, eines Jugendstils 2000. Die Restrukturierung des Raums nach dem Bild der Ware sei eines der wichtigsten Phänomene der kapitalistischen Moderne. (S. 25/26)

Noch klarer kann man es kaum ausdrücken: „Design handelt immer von Begehren, doch erscheint dieses Begehren heute seltsam subjektlos und ´glatt´.“ Design befördere eine neue Art von Narzissmus, der nur das Oberflächenbild kennt, ohne tiefere Dimension. Foster unterstreicht, Walter Benjamin zitierend: „Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel.“ (S. 39)

Um keine Mißdeutungen aufkommen zu lassen, betont Hal Foster: „Es ist nicht meine Absicht, einer eventuell verlorenen `Innerlichkeit der Seele`nachzutrauern (…) und ebenso wenig, die `Äußerlichkeit des Computers` zu feiern. Diese neue Welt, so fährt er fort, sei, so digital sie auch funktionieren mag, in ihrer Erscheinung „immer noch visuell, was nicht zuletzt die Rede vom `Bildschirm`, von `Fenstern` (…) unterstreicht.“ (S. 125)

Gleichzeitig grenze er, der Autor, sich von Schrecken und Sensationen ab, die „als wohlfeile Unterhaltung oder Beiwerk für die Massenmedien“ dienen. (S. 156)

Ist die Kunst – parallel die Geschichte – am Ende? Verschiedentlich fragt sich das der Autor und mit ihm viele Menschen. Hoffnungsvoll schreibt er, womöglich sei das Fortleben nicht so sehr ein Wiederholen als vielmehr ein Neu-Machen, (…) ein Wieder- und Anderswo-Beginnen. (S. 165) Oder anders gesagt: „In erster Linie geht es mir (…) nicht darum, (…) Dinge der Vergangenheit zu retten, sondern darum, sie nochmals zu durchdenken: zu verstehen, warum utopische Momente sich nicht verwirklichen, welche größeren Kräfte dazu führten, ein irgendwo aufscheinendes Moment klein zu halten, und was daran wertvoll war – was daran auch heute noch brauchbar sein könnte.“ (S.177)

Der Rezensent ist nicht so vermessen, dieses Buch mit seinem hohen intellektuellen Anspruch für ausgesprochene Kenner der Szene in aller Tiefgründigkeit und Vielseitigkeit vollständig erfassen zu wollen und zu können. Eines ist jedoch gewiß: Es stärkt die Starken in ihrem Widerstand gegen den ausflutenden und unbarmherzig zuschlagenden Zeitgeist, gegen die „Verführungs-Kunst“ im alleinigen Interesse der Profitmaximierung  den Rücken. Es reiht sich ein in eine so dringlich gewordene „Widerstandskultur“.

(„Design und Verbrechen“ Und andere Schmähreden. Autor: Hal Foster, übersetzt von Thomas Atzert, Edition TIAMAT, Verlag Klaus Bittermann, ISBN: 978-389320-162-4, 1. Auflage: Berlin 2012, 224 Seiten, 18.00 Euro)

 

                                                                  

Donnerstag, 23. August 2012

Wenn ein Brief Bände spricht...

 
23. August 2012: Nach einer Wanderung mit meiner Cleo durch „Wald und Flur“ fand ich zu Hause einen Brief folgenden Inhalts vor:

„Ich habe gerade den Hörer nach dem Gespräch mit Dir aufgelegt und möchte mein Versprechen auf der Stelle einlösen: hier also meine ersten Gedanken zu Deinem Gemälde `Mensch und Welt…`:

Hier hat ein Mensch sein überschäumendes Glück, das ihm widerfahren ist im Leben, in Farbe umgesetzt. Mein erster Eindruck: einfach phantastisch!!! Das Bild, das bist Du, mein lieber Harry, hier hast Du Deine Visionen eingebracht, Deine ganze Phantasie, Deine erlebte Liebe und auch Deine ausgeprägte Fähigkeit, liebenswürdig zu spinnen.

Ich habe jetzt das Gefühl, daß ich einen ausgesprochen schönen Tagesausklang hatte und  dafür danke ich Dir. Ich wünsche Dir und Ingi auch in Zukunft eine schöne und immer wieder anregende Zweisamkeit.

In Freundschaft S.“
(Siehe der Beitrag "Mein Gemälde Mensch und Welt" in diesem Blog.)


Hans schreibt mir per E-Mail:

 „Ich sitze beinahe seit einer Stunde vor Deinem Bild . Denke, mache Notizen , interpretiere, verwerfe Gedanken . Bin noch nicht fertig. Man kann vieles hineindenken...

Unser blauer Planet, verbunden mit der Sonne durch eine unlösbare Klammer. Die Größe der Sonne, sie könnte ihre Bedeutung für uns symbolisieren. Deutlich auf ihrer süd-westlichen Oberfläche Eruptionen. Auch im süd-westen der Erde eine sich explosionsartig ausbreitende, verschieden gerichtete Erscheinung. Wäre es Afrika und Arabien , würde ich es mit den völlig ungerichteten und verworrenen ,chaotischen Rebellionen und politischen Entwicklungen in Verbindung bringen.

Und ich sehe aber auch aus dem Osten eine auf ein Haus zugehende weibliche Lichtgestalt. Sie möchte Euch Blumen bringen. Sie will Euch ihre Freude darüber ausdrücken, dass Ihr 50 Jahre in Freud und Leid zusammengestanden habt . Sie wäre gerne bei Euch , Tamara.

Aber auch einen Galgen , unterhalb des Hauses, sehe ich . Kaum zu erkennen daran eine menschliche Gestalt . Versteckter Hinweis auf immer noch auf dieser Welt verhängte und vollzogene Vernichtung menschlichen Lebens durch Todesstrafe und Krieg ?

Lieber Harry, wenn ich mal annehme, dass es in diesem Stil ein erster Versuch und natürlich völlig anders als beispielsweise die von Dir gemalte landschaftliche Idylle auf Deinen Buch ist, na dann ist doch der Anfang im neuen Stil schon mal nicht schlecht. Wie gesagt, es kommt auf den Interpreten an. Das ist wie bei jeder Sache so. Nicht jeder liebt schwere Kost ...bissel nachdenken und künstlerische Freiheit darf schon sein; das meine ich , der unbedarfte Kunstbanause . Zufrieden ?“


Auch Erwin meint:

Das Bild fasziniert und zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters an. Zu sehen ist die Weltkugel, die mit einem Feuerball zusammenstößt. Dieser Zusammenprall ist aber nicht das Ende der Welt, sondern nur ein ernsthaftes Signal für eine Wende im Umgang mit der Natur auf der Welt. Auf der einen Seite wird auf der Erdkugel Elend und Zerstörung (umgestürzter Baum) gezeigt. Andererseits wird durch die noch frische Vegetation und Blumen der Eindruck geweckt, dass das nicht das Ende der Welt ist.

Der Gesamteindruck ist nicht negativ und traurig. Das Bild strahlt durch die leuchtenden und hellen Farben Lebensfreude, Kraft, Zuversicht und auch Hoffnung aus. Die bessere Welt wird kommen. Noch ist es nicht zu spät, die Apokalypse kann vermieden werden. Der Feuerball symbolisiert einerseits die Klimaerwärmung und andererseits das Angebot, das Energieproblem der Menschheit durch Solarenergie lösen zu können.

Je länger ich das Bild betrachte, desto mehr Ideen fallen mir dazu ein. Es ist wirklich nicht langweilig, sondern in gewissem Sinne provoziert es zum Grübeln, zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung.

Leider fällt mir zur weiß gekleideten Person auf dem Bild nichts ein. Dazu brauchte ich ein paar Anstöße von Dir zu ihrer Rolle in den sonst dargestellten Turbulenzen. Wenn ich Dich nicht kennen würde, würde ich auf eine religiöse Gestalt tippen. Es könnte auch sein, dass Du einfach provozieren willst. Das wäre dann auch gelungen!

Lieber Harry, ein tolles Bild, dass zur Diskussion einlädt.

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Harry-Dank:

Hallo, herzlichen Dank für jene, die hier so tolle Ermutigungen äußerten: Bin sehr überrascht von dieser Reaktion, aber ich wollte eben mal anders rangehen beim Malen. Wer Cleo ist, wißt Ihr ja inzwischen… Die Bildgröße: 70 X 50 cm. Was man auf der Abbildung vielleicht nicht sehen kann: Mit Pastemasse aufgeklebte Gräser, ein Eichenblatt, Streichhölzer und Eierschalen, rechts in der unteren Hälfte. Ausgangsidee war die Darstellung der Frau (meine Frau) mit dem Blumenstrauß. Und die Schönheit der Erde, die Gefährdungen - und, alles hat auch mal sein Ende: Die Endlichkeit unseres Seins. Nutzen wir diese kurze Zeit immer gut und nützlich? Ich habe große Hochachtung vor Frauen. Sie geben Leben, Freude, und sie leiden, wenn Verbrechen wie Kriege sind. Sie haben am meisten zu tragen... Hut ab vor ihnen.
 

Rückblende „Goldene Hochzeit“:

23.12.2011: Zehn Leute in sehr gemütlicher Szenenatmosphäre. („Landfall“ in Friedrichshagen.) Umarmungen, fröhliches Lachen. Ich viele Zettel in der Hand mit der Bemerkung, eine längere Rede halten zu wollen angesichts des Jubiläums. Wenn ichs nicht wüßte – sehr lange Gesichter! Zettel raus. Ich: „Oh, die sind ja noch nicht beschrieben.“ Großes Aufatmen, nahezu hörbar!! Frage von mir: „Kann man auch ohne Worte viel sagen?“ Das jüngste Enkelkind: „Küssen!!“

Gesagt, Getan! Cleo lacht.

Ich: „Aber es gibt noch mehr Möglichkeiten...“ Gehe zur Staffelei, enthülle das Gemälde. Oh, ah, oh!!! Cleo als erste: „Donnerwetter, das gefällt mir aber.“

Alle zehn versammeln sich vor dem Bild. Patrick, der Kameramann, filmt. Großes Nachdenken und Gratulationen. Hier und dort ein vorsichtiges Anfragen, wie denn so das Motiv zu deuten sei…???

Cleo des nachts nochmals ins Wohnzimmer an die Staffelei. „Volltreffer!!“, jubelt sie.

Ein größeres Kompliment gibt es nicht!

 
 
 

Dienstag, 7. August 2012

Der brave Soldat

Ich hätte mir als 75jähriger und einstiger NVA-Oberstleutnant nicht unbedingt träumen lassen, mit einem Bundeswehroffizier Aug in Aug zu diskutieren -  unserem damaligen Gegner. Seit ich die NVA verließ war ich gerade man fünfzig Jahre alt. Und den ich dieser Tage im Verteidigungsministerium sprechen und Vortrag halten hörte, ist wohl etwa 40 Jahre jünger. Kurz: Es handelte sich um eine Gruppenveranstaltung an einem sehr warmen Augusttag des Jahres 2012 mit einem Offizier für Öffentlichkeitsarbeit – also ein organierter Besuch beim Ministeriums mit anderen interessierten Leuten.

Was hatte sich wohl verändert im Wesen und Auftrag der Bundewehr seit der sogenannten Wende? Zumal der „Gegner“ nicht mehr existiert? Aus Zeitungen kann man viel lesen, aber so als Augenzeuge einen offiziellen Vertreter sprechen zu hören – das ist schon was Besonderes.

Nein, der junge Mann hatte kein „klassenfeindliches“ Äußere. Weder im Auftreten noch in seinen Worten. Ganz im Gegenteil: Forsch, jung, schlank, gekleidet in einer schicken weißen Uniformbluse, Schulterstücken und dunklen langen Hosen, frei redend, gleich zum Anfang durch witzige Bemerkungen zum Lachen herausfordernd. (Ich erinnere mich an einen Besuch im Bundestag. Die Beamten traten ähnlich auf gegenüber ihren gläubigen Zuhörern: Frisch, frei redend, wortgewandt, unschlagbar argumentativ.)

So auch der Öffentlichkeitsapostel. Zur Sprache kamen: Die Struktur der Bundeswehr, deren Einsatzgebiete, ob in Afghanistan oder am Horn von Afrika. Ich verglich mit Vorträgen in der NVA: Da wurde sehr oft zuerst die politische Lage analysiert. Das war der Ausgangspunkt jeglicher Diskussion. Nicht hier. Anfangs nur paar einführende Worte. Und schon schloß sich seine Aufforderung an, Fragen zu stellen.

Ich startete mit drei. Erstens, wie steht die Budeswehr zur USA-geplanten Raketenstationierung in Europa? Zweitens: Was hält der junge Mann von des Bundespräsidenten Rede zur Bundeswehr, in der er forderte, man müsse auch sein Leben lassen für die Freiheit? Drittens: Wie sieht er den einstigen Auftrag der NVA?

Klare Antworten: Ja, man erfülle strikt die Aufgaben im Rahmen der NATO zum Schutz von Freiheit und Staat. Die Rede des Herrn Gauck sei gut gewesen. Zur NVA habe er keine Meinung, einige NVA-Leute seien ja mit übernommen worden. Das sei nun Geschichte. Nun ja, eine andere Antwort hätte mich verblüfft.

Immer wieder fällt die Formulierung „vorausschauende Sicherheitsvorsorge“. Dazu trage die Führung der Bundeswehr, zusammen mit Parlament und Regierung, eine große Verantwortung. Er kommt auf den Verteidigungsminister zu sprechen. Das sei ein ziviles Amt.

Frage an den Offizier: Mancher Friseur maßt sich an, auf Mallorca Würste zu verkaufen. Warum hat der Verteidigungsminister keine militärische Ausbildung?

Antwort: Er habe ja genügend Berater im Ministeruium. Seine Aufgabe sei vor allem politischer Natur, um auch der Bundeskanzlerin beratend zur Seite zu stehen.

Bemerkung von mir: Unser Armeegeneral Heinz Hoffman hatte beides: eine hochqualifizierte militärische Ausbildung und eine hochgradige politische Bildung und Erfahrung. (Lacher in der mehrköpfigen Runde.)

Weiter der Buwe-Mann: Er veranschaulicht u.a. an Beispielen die Auslandseinsätze der Armee. Als sein nahezu spürbarer Stolz auf die „Verantwortung“ Deutschlands für Ruhe und Ordnung in der Welt einen gewissen Höhepunkt erreicht, wird ihm die Frage gestellt, welche Feinde denn die Bundewehr habe.

Er zählt auf: Terroristen, Schurkenstaaten, Unruhen, instabile Länder…

Frage an ihn: Angesichts der weiteren Krisenverschärfung könne es zu sozialen Unruhen weltweit kommen, auch dann?

Er nickt, ich glaube Verlegenheit in seinem Antlitz wahrzunehmen…

„Danke“, sage ich, „das reicht!“

Weitere interessante Fragen von den Zuhörern gab es konkret zu Afghanistan und zur Funktion von Drohnen. Der Offizier antwortete mit zahlreichen Fakten. Er stand wirklich im Stoff.

Zum Abschied reiche auch ich ihm die Hand. Danke für den gekonnten Vortrag. Er ist bestimmt ein guter Diener seines Staates. Ich sage: Ich war Oberstleutnant der NVA und bin stolz darauf. Das Nur-Befehlsempfänger-Dasein war bei uns allerdings verpönt. Wir strebten nach mehr, nach viel mehr…

Der junge und durchaus sympathische Repräsentant der Bundeswehr lächelt. Er ist der Sieger – der stramme und brave Soldat.

Und mir ist kalt geworden.