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„Multipolarization“ – Münchner Sicherheitsbericht 2025
19. Februar 2025
von Rainer Rupp
↓ Teil 1
↓ Teil 2
Teil 1
Die globale Mehrheit setzt ihre Hoffnungen auf eine multipolare
Weltordnung. Im Bericht der bevorstehenden Münchner Sicherheitskonferenz
wird dagegen der konfliktreiche Charakter der „Multipolarisierung“
betont, was die westliche Präferenz für Konfrontation statt Kooperation
widerspiegelt.
Erstveröffentlichung am 14.02.2025 auf RT DE
Der Bericht, der die Konferenz begleitet, umfasst neun Kapitel auf
insgesamt 120 Seiten Text. Die Einleitung beginnt mit einer inzwischen
zur Binsenweisheit gewordenen außenpolitischen Feststellung, dass
nämlich die Welt immer multipolarer wird. Ob die Welt heute bereits
multipolar sei, ließe sich diskutieren, so die Autoren, doch die
„Multipolarisierung“ an sich sei eine Tatsache:
„Einerseits verschiebt sich die Macht zu einer größeren Anzahl von
Akteuren, die Einfluss auf globale Schlüsselprobleme nehmen können.
Andererseits erlebt die Welt eine zunehmende Polarisierung sowohl
zwischen als auch innerhalb vieler Staaten, was gemeinsame Ansätze zur
Bewältigung globaler Krisen und Bedrohungen erschwert.“
Das heutige internationale System zeige „Elemente von Unipolarität,
Bipolarität, Multipolarität und Nichtpolarität“. Dennoch sei eine
eindeutige Verschiebung hin zu einer größeren Anzahl von Staaten, die um
Einfluss ringen, erkennbar. Diese Multipolarisierung zeige sich nicht
nur in der Verteilung materieller Macht, sondern auch in der
ideologischen Polarisierung der Welt. Der politische und wirtschaftliche
Liberalismus, der die unipolare Nachkriegszeit geprägt hat, sei nicht
mehr der alleinige Maßstab. Er werde sowohl intern durch den Aufstieg
von nationalistischem Populismus in vielen liberalen Demokratien als
auch extern durch eine wachsende ideologische Spaltung zwischen
Demokratien und Autokratien herausgefordert, sowie durch die Existenz
mehrerer konkurrierender oder sich bekämpfender Ordnungsmodelle.
Diese Multipolarisierung löse laut der Autoren „weltweit gemischte Gefühle aus“.
„Optimisten sehen Chancen für eine inklusivere globale Regierungsführung
und mehr Beschränkungen für Washington, dessen Dominanz lange von
vielen als übermächtig angesehen wurde.
Pessimisten warnen vor einem erhöhten Risiko von Unordnung und Konflikten und einer untergrabenen effektiven Zusammenarbeit.“
Laut dem Münchner Sicherheitsindex 2025 stehen die Menschen in den
G7-Ländern einer multipolare Welt weniger optimistisch gegenüber als die
Befragten in den „BRICS“-Ländern, wobei nationale Ansichten durch
unterschiedliche Perspektiven auf die aktuelle und die jeweils
wünschenswerte zukünftige internationale Ordnung geprägt sind.
Kapitel 2 des Berichts beschäftigt sich mit Donald Trumps
Präsidentschaftssieg. Der habe den US-amerikanischen Konsens in der
Außenpolitik nach dem Kalten Krieg begraben, wonach der liberale
Internationalismus als Großstrategie den US-Interessen am besten dienen
würde. Für Trump und viele seiner Unterstützer stelle die von den USA
geschaffene internationale Ordnung einen schlechten Deal dar. Wörtlich
heißt es weiter:
„Als Konsequenz könnten die USA ihre historische Rolle als
Sicherheitsgarant Europas aufgeben – mit erheblichen Folgen für die
Ukraine. Die US-Außenpolitik der kommenden Jahre wird wahrscheinlich vom
bipolaren Wettstreit mit Peking geprägt sein, was die
Multipolarisierung des internationalen Systems beschleunigen könnte.“
In Kapitel 3 geht es um China als den angeblich „prominentesten und
mächtigsten Befürworter einer multipolaren Ordnung“ wobei sich Peking
gern als Anwalt für die Länder des sogenannten Globalen Südens ins Spiel
bringt. Viele im Westen würden jedoch hinter Pekings Plädoyer für
Multipolarität lediglich einen rhetorischen Vorhang sehen, hinter dem
„der große Machtwettbewerb mit den USA stattfindet.“ Trotz Chinas
erheblichem Erfolg, die Unzufriedenen der aktuellen Weltordnung zu
mobilisieren, stünde das Land aktuell vor hausgemachten Hindernissen.
Zudem würden unter Präsident Trump die Bemühungen der USA, China zu
behindern, wahrscheinlich intensiviert werden, aber im Gegenzug könnte
China auch von einem Rückzug der USA aus internationalen Verpflichtungen
oder der Entfremdung Washingtons von langjährigen Partnern profitieren.
Der EU widmet sich das Papier unter Kapitel 4. Weil – so die Autoren –
die EU die liberale internationale Ordnung verkörpert, stellten die
wachsenden Anfechtungen zentraler Elemente dieser Ordnungsvorstellung
eine besonders schwerwiegende Herausforderung für die EU dar. Russlands
Krieg gegen die Ukraine und der Aufstieg des nationalistischen
Populismus in vielen europäischen Gesellschaften gefährdeten ebenfalls
zentrale Elemente der liberalen Vision der EU. Weiter heißt es unter
Kapitel 4:
„Donald Trumps Wiederwahl könnte diese Herausforderungen noch verstärken
und die Debatte wiederbeleben, ob die EU zu einem autonomen Pol in der
internationalen Politik werden muss. Gleichzeitig könnte dies
populistische Bewegungen ermutigen, die die inneren Spaltungen Europas
vertiefen und die Fähigkeit der EU, die Krisen zu bewältigen,
untergraben.“
Die Abrechnung mit Russland kommt in Kapitel 5. In diesem Jahrhundert
habe „kein Staat mehr Energie darauf verwendet, die internationale
Ordnung zu erschüttern, als Russland“, heißt es dort. Moskau stelle sich
eine multipolare Weltordnung vor, die aus „Zivilisationsstaaten“
besteht, wie Russland sich selbst sieht. Kleinere Länder – für Russland
zählt die Ukraine dazu – gehören nach Moskauer Sichtweise in die
Einflusszone eines Zivilisationsstaats. Auch die nächste Passage aus
Kapitel 5 ist wichtig, um zu erkennen, wessen Geisteskind die Autoren
des Berichts sind, bzw. von welchem Informationsniveau aus sie
argumentieren, denn dort heißt es:
„Trotz der Diskrepanzen zwischen Moskaus Selbstbild und seiner
tatsächlichen Machtbasis sind Russland Bemühungen erfolgreich, die
Stabilisierung der internationalen Ordnung zu stören. Gleichzeitig steht
Russland vor wachsenden wirtschaftlichen Problemen und den Folgen
imperialer Überdehnung. Ob das Land seine Vision von multipolaren
Einflusszonen umsetzen kann, hängt vom Widerstand anderer ab.“
In Kapitel 6 heißt es:
„Indische Führungskräfte kritisieren die bestehende internationale
Ordnung und umarmen den Gedanken der Multipolarität, was untrennbar mit
der Suche Indiens nach einem Platz unter den führenden Mächten der Welt
verbunden ist.“
Während Neu-Delhi Fortschritte bei der Erhöhung des internationalen
Profils Indiens mache, stünde auch Indien vor Herausforderungen: Extern
wächst Chinas strategischer Fußabdruck unter Indiens Nachbarn. Zugleich
leide Indiens Wirtschaft an strukturellen Schwächen. Zudem sei im Inland
der politische und kulturelle Pluralismus im Niedergang. Und obwohl
Neu-Delhi sich als Stimme des Globalen Südens positioniert hat, erweckt
seine Politik der Mehrfachausrichtung Zweifel, ob Indien bereit ist,
eine prominentere Rolle bei globalen Friedensbemühungen zu übernehmen.
Letzteres ist eine kaum versteckte Kritik an Indiens Weigerung, sich für
die westliche, antirussische Sanktionspolitik gegen Russland zu
entscheiden.
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Teil 2
In diesem Teil rücken Japan, Brasilien und Südafrika in den multipolaren
Focus der Münchner Sicherheitskonferenz. Am Ende folgt eine Analyse des
Polarisierungs- und Konfliktpotenzials, das in diesem Bericht steckt,
der unzweifelhaft unipolare Konfrontation der multipolaren Kooperation
vorzieht.
Erstveröffentlichung am 15.02.2025 auf RT DE
Japan wird in Kapitel 7 als „eine typische Status-quo-Macht“
präsentiert. Tokio sei tief in den liberalen Internationalismus und die
Vorherrschaft der USA eingebunden. Daher sei man „in Japan besonders
beunruhigt über das Ende des unipolaren Moments, über den Aufstieg
Chinas und die Aussichten auf eine neue multipolare Ordnung“. Unter den
Antworten auf die Umfrage für den Münchener Sicherheitsindex 2025 seien
es die Japaner gewesen, die sich am meisten Sorgen über eine multipolare
Welt machten. Andererseits habe sich Tokio länger als die meisten
anderen auf diese geopolitischen Veränderungen vorbereitet. Außerdem
zeigen zahlreiche neue Maßnahmen (Anspielung auf QUAD), dass Japan
bereit sei, „sich und die Ordnung, die es schätzt, zu verteidigen.“
Brasilianische Führer, im Gegensatz zu Japan, sähen im Aufkommen einer
multipolaren neuen Ordnung eine Gelegenheit, veraltete Machtstrukturen
zu reformieren und den Ländern des Globalen Südens eine stärkere Stimme
zu geben, heißt es im vorletzten Kapitel 8. Aus diesem Grund habe
Brasilien bei seiner G20-Präsidentschaft letzten Jahres Reformen der
globalen Regierungsführung zusammen mit anderen Prioritäten des Globalen
Südens wie Armutsbekämpfung und Ernährungssicherheit an die Spitze der
Agenda gesetzt. Mit seinen bedeutenden natürlichen Ressourcen hat
Brasilien das Potenzial, seinen globalen Einfluss weiter zu steigern und
Debatten über Ernährungs-, Klima- und Energiesicherheit zu gestalten.
Doch die Aufrechterhaltung von Brasiliens traditionelle Politik der
Blockfreiheit „könnte angesichts steigender geopolitischer Spannungen
und vor allem wegen einer zweiten Amtszeit Trumps schwieriger werden“,
heißt es unter kaum verhüllter Anspielung auf Trumps Drohankündigung
einer neuen Monroe-Doktrin und exklusiven Dominanz der USA über ganz
Lateinamerika.
Im letzten Kapitel 9 steht Südafrika im Fokus. Dessen Enthusiasmus für
die Multipolarität sei nicht zu trennen von seiner Kritik an der
bestehenden internationalen Ordnung, insbesondere an nicht
repräsentativen internationalen Institutionen. Pretoria kritisiert
regelmäßig westliche Staaten für die selektive Anwendung internationalen
Rechts. Südafrika wurde lange als „natürlicher Führer“ Afrikas und als
internationales moralisches Vorbild wahrgenommen. Doch mit dem Anstieg
des Anti-West-Gefühls im Land und dem Rückgang bei der Förderung von
Menschenrechten und internationalem Recht hat das Land auch an
internationalem Ansehen verloren.
Abschließend urteilen die Autoren, dass die „Visionen von Multipolarität
auch polarisieren“. Dies mache es zunehmend schwieriger, die bestehende
Ordnung friedlich anzupassen, neue Rüstungswettläufe zu vermeiden,
gewalttätige Konflikte innerhalb und zwischen Staaten zu verhindern, ein
inklusiveres wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen und gemeinsam
Bedrohungen wie den Klimawandel anzugehen, den die Befragten zum
Münchener Sicherheitsindex konstant hoch bewerten.
Da die „großen und nicht so großen Mächte“ diese Herausforderungen nicht
allein bewältigen könnten, werde ihre Zusammenarbeit entscheidend sein.
Dass viele in der internationalen Gemeinschaft weiterhin den
regelbasierten Multilateralismus schätzen, zeigte sich in der letzten
Jahresverabschiedung des Pakts für die Zukunft. Damit diese
Zusammenarbeit gelingt, könnte die Welt jedoch gut etwas
„Entpolarisierung“ gebrauchen. 2025 wird zeigen, ob dies in den Karten
liegt – oder ob die Welt noch weiter gespalten wird.
Fazit – Polarisierung und Konfliktpotenzial:
Der Text des Münchener Sicherheitsberichts 2025 bietet mehrere Hinweise,
dass die Autoren dem alten unipolaren Modell mit der US-diktierten
regelbasierten Unordnung nachtrauern. Wenn man z. B. wie in Kapitel 1
schreibt: „Pessimisten warnen vor einem erhöhten Risiko von Unordnung
und Konflikten und einer untergrabenen effektiven Zusammenarbeit“, dann
suggeriert das, dass im westlichen Kontext der G7-Länder die
Multipolarisierung als eine Quelle von Unordnung und Konflikt gesehen
wird, was implizit eine Neigung zur Konfrontation anstatt zur
Kooperation impliziert.
Dies wird vor allem durch die ominöse Passage mit Anspielungen auf
Rüstung und Krieg am Ende der obigen Zusammenfassung deutlich. Demnach
machen es die aktuellen globalen Entwicklungen hin zur Multipolarität
den westlichen Akteuren, die weiterhin in der neoliberalen
US-Unipolarität gefangen sind, „zunehmend schwierig, ihre bestehende
Ordnung friedlich anzupassen, neue Rüstungswettläufe zu vermeiden,
gewalttätige Konflikte innerhalb und zwischen Staaten zu verhindern und
ein inklusiveres wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen.“
Diese Passage betont, dass die Probleme und Schwierigkeiten, die mit dem
Umstieg auf Multipolarität einhergehen, von den Westeliten eher als
antagonistische Herausforderungen und Konflikte gesehen werden als eine
Chance zu einer erweiterten Kooperation und einer Win-Win-Zukunft.
Im Text als Ganzes wird unverkennbar deutlich, dass der Westen im
Wettstreit der Polaritäten Konfrontation statt Kooperation vorzieht.
Hinzu kommt eine überhebliche eurozentrische Weltsicht, die sich zwar in
Nebensätzen äußert, aber dennoch das Weltbild der Autoren offenbart. Z.
B. im Kapitel über Südafrika heißt es:
„Mit dem Anstieg des Anti-West-Gefühls hat Südafrika … an internationalem Ansehen verloren!“
Die Logik der Autoren ist bestechend, denn ihre Aussage würde nur
stimmen, wenn die „internationale Gemeinschaft“ ausschließlich aus den
wenigen unipolar ausgerichteten prowestlichen Staaten bestehen würde.
Aus multipolarer Sicht müsste der Satz folgendermaßen lauten:
„Mit dem Anstieg des Anti-West-Gefühls hat Südafrika … an internationalem Ansehen gewonnen!“
Im Kapitel über Europa wird die EU als Symbol der liberalen
internationalen Ordnung dargestellt, die durch die Multipolarisierung
bedroht ist, was eine defensive, wenn nicht sogar konfrontative Haltung
gegenüber der Multipolarität impliziert.
Im Kapitel über China wird deutlich, dass die Autoren Chinas Bemühungen
zur Multipolarität eher als eine Taktik für Machtwettbewerb
interpretieren, was nicht auf eine ernstzunehmende Bereitschaft des
Westens für eine konstruktive Annäherung an die neue Multipolarität
schließen lässt, sondern eher auf eine konfrontative Haltung. Zudem
zeigt dieses Kapitel, dass US-Außenpolitik unter Trump stärker auf
Konfrontation mit China ausgerichtet sein wird, was ohnehin die
Anti-These zu kooperativen Ansätzen im Sinne der Multipolarität
prophezeit.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Bericht zwar vage eine
globale Mehrheit anerkennt, die in der Multipolarität Chancen sieht,
jedoch die westlichen Perspektiven (insbesondere der G7-Länder) als
besorgt und eher konfrontativ gegenüber dieser Entwicklung erscheinen
lässt. Diese Sichtweise wird durch die Betonung der Risiken wie
Unordnung, Konflikte und Machtwettbewerb gestützt, was eine Präferenz
für Konfrontation über Kooperation widerspiegelt. Geradezu lächerlich
ist es, wenn der Bericht die Notwendigkeit und den Wert von Kooperation
im Kontext globaler Herausforderungen nur für einen einzigen Bereich
anerkennt, nämlich für den Klimawandel, der zu einer Geldmaschine für
die westlichen Eliten geworden ist.
Kooperation im Kontext globaler Herausforderungen in den weitaus
wichtigeren Bereichen wie Rüstungskontrolle, vertrauensbildende
Maßnahmen und Abrüstung, Frieden mit Russland und China, diese Themen
kamen den Autoren und ihren Auftraggebern gar nicht erst in den Sinn.
Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
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